Musik / Zurück in die Zukunft: Thrice veröffentlicht „Horizons/East“
Auf dem dritten Album nach dem Comeback klingt Thrice wieder angriffslustiger, zeigt sich aber weiterhin experimentierfreudig. Auf den zweiten Teil des Projekts, der konsequenterweise unter dem Titel „Horizons/West“ erscheinen soll, darf man gespannt sein.
2005 krempelte Thrice, ein Postcore-Quartett aus Kalifornien, mit „Vheissu“, benannt nach einem unauffindbaren Ort aus „V“, dem Debüt des postmodernen (und ebenso unauffindbaren) Kultautors Thomas Pynchon, ein ganzes Genre um: Auf „Vheissu“ wurden den harten, dissonanten Riffs und dem wütenden Gesang konsequent Spuren von Blues, Jazz und experimentellem Indie-Rock einverleibt.
Danach bezeichneten Musikkritiker sie gerne als „Radiohead des Postcore“, ähnlich wegweisend und experimentell waren damals höchstens die Genrekollegen von Brand New oder Thursday. Mit dem Nachfolger „The Alchemy Index“ ging Thrice einen Schritt weiter und vertonte die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde auf vier EPs, die weder esoterisch noch verschwurbelt klangen, sondern die stilistische Bandbreite der Band noch mal erweiterten. Das als Doppelalbum veröffentlichte Projekt erlaubte dem Quartett zudem, zu zeigen, dass es musikalisch mehr drauf hat als so manche Genrevertreter – speziell die Rhythmussektion der beiden Brüder Riley (Schlagzeug) und Eddy Breckenridge (Bass) war verblüffend und einfallsreich, während die Arbeit von Gitarrist und Soundtüftler Teppei Teranishi oftmals an Radiohead-Gitarrist Johnny Greenwood erinnerte.
Die zwei folgenden Platten waren weniger experimentell, die Band festigte ihren Ruf, eine bewegende Mischung aus Indie-Rock und Postcore ohne Genre-Scheuklappen zu spielen. Nach „Major/Minor“ (2011) wurde eine Bandpause einberufen, die man mit Soloprojekten überbrückte, bevor das Comeback mit „To Be Everywhere Is To Be Nowhere“ (2016) eingeläutet wurde – zwei Jahre später verdeutlichte „Palms“, dass die Band ihr kreatives Pulver längst nicht verballert hatte. Für das nunmehr elfte Album „Horizons/East“ entstand dann gleich so viel Material, dass, ähnlich wie bei „The Alchemy Index“, ein zweites Album mit zehn weiteren Songs geplant ist, das zeitnah erscheinen soll.
Die erste Hälfte dieses neuen Projekts zeigt Thrice 2.0 selbstsicherer als auf den ersten Platten nach der Pause – fast wirkt es so, als hätte sich die Band nach dem Split wieder finden müssen und ihre Zuhörer an diesem Findungsprozess hätte teilnehmen lassen wollen.
„The Colour of the Sky“ beginnt mit flächigen Keyboards und einem elektronischen Loop, bevor sich Riley Breckenridges kontrapunktische Schlagzeugmuster langsam herausschälen und Eddy seinen Bruder mit einer groovenden Basslinie begleitet. Die erste Single-Auskopplung „Scavengers“ ist effizienter, wenn auch nicht wahnsinnig innovativer Post-Hardcore: Hier sind es die liebevollen Details wie der verzerrte, an Russian Circles erinnernde Bass oder Teranishis postrockige Gitarren, die den Song prägen. „Buried in the Sun“ erinnert von seinem Groove her an das Frodus-Cover „The Earth Isn’t Humming“ von der „Earth“-EP, schlägt aber härtere Töne an, während sich „Northern Lights“ mit Klavier und verspielten Gitarrenriffs mehr als je dem Jazz nähert.
Verträumter Postcore
Zusammengehalten werden diese doch sehr unterschiedlichen Stilübungen von den schwelgerischen Refrains: Ganz gleich ob Teranishi seiner Affinität zum Jazz huldigt oder Kensrue sich auf „The Dreamer“ vor La Dispute verneigt – im Chorus triumphiert Kensrues Melodiegespür, was dem Album eine gewisse Homogenität verleiht, es aber auch nicht ganz vor Redundanz bewahrt.
Wer sich auf „Horizons/East“ immer wieder an „Vheissu“ oder das „The Alchemy Index“-Doppelalbum erinnert fühlt (ein Track wie „Still Life“ hätte mit seinem postrockigen zweiten Teil definitiv auf der „Air“-EP seinen Platz gehabt) liegt goldrichtig: Auf „Horizons/East“ verzahnen die Kalifornier die Experimentierfreudigkeit der besten Tracks von „Palms“ mit der Härte des Postcore, die ihnen seit dem Comeback etwas abhandengekommen war.
So verneigt sich das elektronisch angehauchte „Robot Soft Exorcism“ deutlich vor Radiohead, während „Summer Set Fire to the Rain“ tollen, druckvollen und melodischen Postcore bietet, an dessen Ende sich Kensrue endlich wieder am Schreien übt. Auch „Dandelion Wine“, das zuerst wie ein Singer-Songwriter-Track aus Kensrues Soloarbeit klingt, gewinnt durch den energischen Schlussteil an Intensität. Nur das finale, dahinplätschernde „Unitive/East“ enttäuscht etwas, was darin liegen dürfte, dass es weniger als Song denn als Bindeglied zur Fortsetzung funktioniert, auf der einen vielleicht neben einem ähnlich uninspirierten „Unitive/West“ neun weitere spannende Songs erwarten.
Die Diskografie in der Übersicht
Das Debüt bietet wütend-rotzigen Punk mit Hardcore-Elementen. Das klingt aus heutiger Sicht leicht angestaubt, wenn auch ehrlich und gut gemacht. Auf „Identity Crisis“ (2000, 6/10) bereitet wenig auf die stilistischen Umbrüche der kommenden Jahre vor.
Auf „The Illusion of Safety“ (2002, 8/10) klingt die Band selbstsicherer und eigenständiger, die Tracks sind gleichzeitig melodischer und lauter, Thrice scheint die Identitätskrise zugunsten einer Identitätssuche eingetauscht zu haben – was Songs wie „Deadbolt“ definitiv gut zu Gesicht steht.
Der Durchbruch: Mit „The Artist in the Ambulance“ (2003, 8/10), ein zeitgleich künstlerisches Manifest und eine durch und durch gelungene Platte, schreibt die Band melodischen Hardcore für die Ewigkeit. Bemerkenswert sind nicht nur Karrierehighlights wie „Stare at the Sun“ oder „Under A Killing Moon“, sondern auch die technische Weiterentwicklung der einzelnen Musiker.
Thomas Pynchon, Miles Davis, Fender Rhodes, progressive Songstrukturen und ein Song mit Gospel-Blues, der Emmanuel Gagneux’ Zeal & Ardour inspiriert haben könnte: „Vheissu“ (2005, 9/10) stellt mit seinen fordernden, abwechslungsreichen und gewagten Tracks alles, was man bisher über Postcore zu wissen glaubte, auf den Kopf und öffnet einem ganzen Genre neue Gestaltungsräume.
Auf den vier EPs von „The Alchemy Index“ (2007, 9/10) interpretiert Thrice die vier Elemente musikalisch: Für „Fire“ besinnt sich die Band auf ihre wütenden Anfänge, die Songs auf „Water“ sind elektronisch-melancholisch, auf „Air“ gibt es schwerelosen Postcore und „Earth“ ist mit knarzendem Klavier und viel Hall ganz schön bluesig. Hätte man die zwölf besten dieser 24 Tracks auf einem Silberling vereint, wäre dies das definitive Meisterwerk der Band gewesen.
„Beggars“ (2009, 8/10) ist die Synthese des „Alchemy Index“-Projekts: Die zehn Songs bedienen sich aus der eindrucksvollen Stilpalette des Vorgängers und bilden ein facettenreiches Album. Hier nähert sich Thrice mehr denn je dem Indie-Rock, was Fans der ersten Stunde vielleicht etwas sauer aufstieß. Nichtsdestotrotz ist das Songwriting auf „Beggars“ ausgefeilter denn je, was Tracks wie „In Exile“, „The Weight“ oder „Circles“ beweisen.
„Major/Minor“ (2011, 8/10) ist das letzte Album vor der Bandpause. Die Band klingt homogener als auf den Platten davor, man lässt die Tasteninstrumente wieder größtenteils zugunsten eines gitarrenlastigen Klangbildes fallen. Auch wenn die Songs der Platte wie gewohnt stark sind, ist es das erste Mal, dass sich die Band stilistisch nicht wirklich weiterentwickelt.
„To Be Everywhere Is to Be Nowhere“ (2016, 8/10) ist eine typische Comeback-Platte: Anstatt stilistisch herumzuexperimentieren, verlässt die Band sich auf das, was sie am besten kann und bietet elf Songs zwischen hartem Alternative Rock (Opener „Hurricane“ beginnt als Pixies-Hommage), schnellem Punk („Blood on the Sand“), knackigem Postcore („Death from Above“) und bluesigem Indie-Rock („Black Honey“).
Unter Kritikern gilt „Palms“ (2018, 8/10) mittlerweile als die schlechteste der drei Comeback-Platten. So einfach ist die Sache jedoch nicht, denn im Gegensatz zum Vorgänger traut sich Thrice hier wieder mehr: Auf „Blood on Blood“ hört man eine Harfe, auf „Just Breathe“ gibt’s ein tolles Duett mit Emma Ruth Rundle. Auch wenn hier nicht alles zündet, sind die besten Tracks auf „Palms“ Material fürs Kanon – und emanzipieren sich, mehr noch als „Horizons/East“, vom Genre des Postcore.
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