Lust zu lesen / Zwei Buchkritiken für hungrige Literaturfans: „Mythos Nationalgericht“ und „Vom Essen zwischen den Kriegen“
Liebe geht durch den Magen, doch was ist mit Literatur? „Mythos Nationalgericht“ greift die italienische Küche an, „Vom Essen zwischen den Kriegen“ hält unter anderem Kuriositäten zum Sprechen über Essen bereit. Zwei Buchkritiken für hungrige Literaturfans.
„Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche“ – Unter falschen Voraussetzungen aufgetischt
Umgerechnet auf die Anbaufläche müsste Italien dreimal so viele Olivenhaine haben, um die Masse an Olivenöl, das weltweit verkauft wird, tatsächlich auf eigener Scholle und in eigenen Fruchtpressen produzieren zu können. Zählt man Dünger in Rotwein, gepanschten Balsamico-Essig, falsch etikettierte „Amalfi“-Zitronen oder gar Parasiten in Trockenfrüchten hinzu, wird deutlich, wie arg in den letzten Jahren der gute Ruf der ach so gesunden italienischen Küche unter den aufgeflogenen Lebensmittelskandalen gelitten hat.
Dass Italien und sein Essen aber grundsätzlich einer kritischen Betrachtung unterzogen werden sollte, auf diese Idee verfiel der Philosophieprofessor Alberto Grandi mit seinem Bestseller „Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche“. Wie die zweite Hälfte des Buchtitels schon nahelegt, behauptet der Spezialist für Unternehmens- und Ernährungsgeschichte, dass es sich bei dem, was wir allgemein unter „italienischer Küche“ verstehen, um ein Konstrukt handelt, dem jede historische Grundlage fehlt.
Seine steile These macht Grandi an einer Entwicklung fest, die er in den 1970er Jahren verortet: „Als das seit Mitte der Fünfzigerjahre rasante wirtschaftliche Wachstum nach und nach stagnierte, begann Italien die Großindustrie als Entwicklungsmodell infrage zu stellen und schlug, verglichen mit anderen Industriestaaten, einen ganz eigenen Weg ein. Er bestand darin, kleine Firmen und Industriedistrikte (heute oft als Cluster bezeichnet) sowie das ‚Made in Italy‘ und damit auch die angeblichen Spitzenleistungen im Bereich der Gastronomie und des Weinbaus als zentrale Wachstumsfaktoren aufzuwerten – und verzichtete umgekehrt auf eine Industriepolitik, die auf Forschung und Investitionen, auf Prozessoptimierung, neue Energiequellen und Ähnliches setzte.“ Stellen wir die eingangs aufgezählten Skandale in den Kontext von Grandis Grundannahme, so erscheinen sie als typische Produktionsausfälle eines Industriezweiges, der versucht, die Massenfabrikation von Lebensmitteln durch die große Rede vom Handwerk zu überspielen, das auf Traditionen fundiert, die über Generationen entstanden sind.
Not macht erfinderisch
Von Italien als Staat kann erst mit der Thronbesteigung von König Viktor Emanuel II. 1861 gesprochen werden. Respektvoll erwähnt Alberto Grandi den nie ganz gelungenen Kraftakt, der in der Folge unternommen wurde, um die in viele, sehr unterschiedliche Regionen zersplitterte Apenninenhalbinsel zu einen. Wobei das Essen als gemeinschaftsbildender Faktor erst aus dem Exil heraus in Betracht kam. Denn fünfzehn Millionen Menschen flohen vor Hunger und Elend aus Italien, hauptsächlich in die USA und Südamerika.
Dort, in den italienischen Vierteln von New York oder Chicago, begann sich im Miteinander der wild zusammengewürfelten Haufen von „Erdfressern“ (terroni) und „Maisfressern“ (polentoni), die aus dem Norden und Süden Italiens stammten, so etwas wie eine gruppen- oder sippenübergreifende Identität auszubilden. Deren Entwicklung führte zu einer ebenso spezifischen wie variationsreichen Hausmannskost, die in den USA übrigens skeptisch angesehen wurde. Dachte man doch, Olivenöl, Nudeln und Pizza wären eher schwer verdaulich. „Selbstverständlich“, so Grandi, „resultierte dieses Vorurteil über das Essen aus den Urteilen über diejenigen, die es zu sich nahmen.“ Daran änderte sich erst etwas, als im Ersten Weltkrieg „Italien, das Land der Habenichtse und Diebe, sich als heroischer Bündnispartner“ der USA „entpuppte“.
Wie Grandi den Anschluss zwischen italienischen Emigranten und der Erfindung besagter Küchentraditionen durch die Lebensmittelindustrie in Italien schafft, soll als Frage in einer Leseempfehlung münden. Denn der Autor versteht es hervorragend, seine provokante These vielschichtig, gewitzt, und mit vielen Einzelbeispielen darzustellen. Es ist diese Komplexität, die dem Buch den Ruch, bloße Krawallprosa zu sein, nimmt.
Alberto Grandi: Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche. HarperCollins Verlag, Hamburg 2024. 256 S. 22 Euro.
„Vom Essen zwischen den Kriegen“ – Wohl bekomm’s!
Bei der Suche nach verschollenen Arbeiten seines Landsmannes Anton Kuh gönnte sich der österreichische Publizist Walter Schübler in den Zeitungsarchiven zur Entspannung gelegentliche Auszeiten, in denen er nach Artikeln Ausschau hielt, die sich mit den Essgewohnheiten in den Jahren ab 1919 bis 1939 befassten.
Die daraus resultierende Kompilation an Texten, die vor einigen Wochen unter dem Titel „Vom Essen zwischen den Kriegen“ das Licht der Welt erblickte, ist ein ganz und gar staunenswertes Konvolut an Aufsätzen, Glossen, Rezepten, Comics, Lebensmittelkarten, Standfotos aus Filmen und jede Menge weitere Illustrationen rund um Lebensmittel und wie man sie in Österreich und Deutschland zu mehr oder weniger schmackhaften Gerichten verarbeitete. Berühmte Namen wie Walter Benjamin oder der heutzutage weitgehend vergessene Stummfilmstar Maly Delschaft tauchen in der Liste von Autorinnen und Autoren auf, ein Großteil der Texte wurde allerdings nur anonym überliefert.
Rationen und Rhetorik
Am Anfang des Buches und somit kurz nach dem 1. Weltkrieg stand die Not. Rationierte Lebensmittel, dann die grassierende Inflation, machten die Jagd nach Essbarem vor allem in Großstädten wie Berlin oder Wien zu existenziellen Erfahrungen, die noch Jahre nachwirken sollten. Als Mitte der 1920er Jahre die Wirtschaft sowohl in Deutschland wie Österreich aus dem Krisenmodus in eine Konsolidierungsphase überging, begann sich auch wieder der Sinn nach Schlagsahne, frischen Feigen und anderen Köstlichkeiten zu regen. „Die gut zwanzig Jahre zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg verlaufen kulinarisch zyklisch“, schreibt Walter Schübler im Vorwort, und: „In Sachen Essen und Trinken nimmt da vieles seinen Anfang, was uns heute umtreibt: Convenience (Food), ,Superfood‘, Ideologisierung von Ernährungsstilen …“.
Allerdings galt das Reden über Essen vor einigen Jahrzehnten noch als unfein. Entsprechend meint man, den Texten ein gewisses Unbehagen anzumerken. Denn im Gegensatz zu heute wurde früher allenfalls in Form von Arbeitsgesprächen zwischen der Dame des Hauses und ihrer Köchin über die Zubereitung von Mahlzeiten kommuniziert. Wer keine Hilfe in der Küche bezahlen konnte, schwieg sich darüber umso dezidierter aus! „Vom Essen zwischen den Kriegen“ bietet deshalb vor allem auch die Wiederentdeckung einer Rhetorik, die eher tastet und fragt, anstatt den Leserinnen und Lesern in Sachen richtige Ernährung Überzeugungen aufzudrängen, wie sie windiger kaum sein könnten!
Walter Schübler: Vom Essen zwischen den Kriegen. Edition Atelier, Wien 2024. 310 S. 15 Euro.
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