Familienschicksal / Zwei Tunesierinnen droht die Abschiebung in ein fremdes Land
Vor 21 Jahren wurde eine bosnisch-tunesische Familie abgeschoben. Der Vater Taoufik Salmi landete unter dem Ben-Ali-Regime in Tunesien im Gefängnis und wurde gefoltert. Zwei seiner Töchter sind kürzlich nach Luxemburg zurückgekehrt – in das Land, das sie einst ausgewiesen hat. Erneut droht ihnen die Abschiebung.
Vieles war ihnen fremd, als Khadija und Imen im vergangenen November nach Luxemburg kamen. Obwohl sie doch einst hier geboren wurden, fühlte sich doch manches anders an, als sie vielleicht gedacht hatten. Die beiden Tunesierinnen hatten all ihren Mut gefasst und waren von dort aufgebrochen, wo sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht haben: in Sidi Bouzid.
In der Nähe der ländlich geprägten Kleinstadt, dem Zentrum des tunesischen Gemüseanbaus, etwa 200 Kilometer südwestlich von Tunis, hat Taoufik Salmi seine Töchter Yamina, Imen und Khadija großgezogen. Sie sind zusammen mit ihrem Vater in dem Dokumentarfilm „A Haunted Past“ zu sehen: wie die drei Mädchen bei der Landwirtschaft und im Haushalt helfen – und wie Taoufik zusammen mit anderen Männern ein Haus baut.
Die Filmemacherin Fatma Riahi kann sich gut an jene Zeit in ihrer Kindheit erinnern, als ihre Familie die drei Geschwister zusammen mit deren Mutter aufgenommen hatte. Sie forschte nach, was aus den drei Mädchen geworden war. In ihrem Film erzählt die Regisseurin behutsam die Geschichte der Familie, indem sie die Protagonisten, vor allem Taoufik und Yamina, die älteste der drei Töchter, zu Wort kommen lässt.
Taoufik hatte in den 90er Jahren seine Heimat verlassen und war über Umwege und anscheinend unter einer falschen Identität nach Luxemburg gekommen. Er war einst in das zerfallende Jugoslawien gezogen, als dort die Balkankriege tobten, um auf der Seite der Bosniaken zu kämpfen. Der Tunesier heiratete die Bosnierin Marcida und zog mit ihr nach Luxemburg, wo die beiden jüngeren Töchter Imen und Khadija zur Welt kamen.
Als vermeintlicher Terrorist festgenommen
Die Familie beantragte Asyl. Doch ihr Antrag wurde im September 2000 abgelehnt. Taoufik Salmi habe seine politische Verfolgung nicht glaubhaft machen können, hieß es seitens der für Asylfragen zuständigen Behörde. Ein Rekurs wurde abgelehnt, auch ein weiterer Anlauf blieb erfolglos. Am 31. März 2003 wurde Taoufik als vermeintlicher Terrorist festgenommen. Damals herrschte in der Folge der 9/11-Anschläge in vielen Ländern der Welt eine Panik vor islamistischen Terrorattacken. So auch in Luxemburg. An jenem 31. März 2003 starteten die Sicherheitskräfte eine groß angelegte Razzia in „Islamistenkreisen“, wie es hieß. Etwa 18 Wohnungen, unter anderem in Bonneweg und Hamm, wurden durchsucht – zwei davon aus Versehen, wie sich später herausstellen sollte.
Unter dem beschlagnahmten Material war angebliches Propagandamaterial für den „Dschihad“, dazu Aufnahmen von EU-Gebäuden, wie einer der an der Razzia beteiligten Beamten behauptete. „Dass sich die Aktion des nächtlichen Hausbesuchs als ungerechtfertigt erwies, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass mehrere der betroffenen Familien Anzeige erstatteten und Recht bekamen – sie erhielten eine Entschädigung“, sagt einer von ihnen, der nicht genannt werden möchte.
Eine der durchsuchten Wohnungen war jene von Taoufik Salmi und seiner Familie. Zusammen mit seiner zu dieser Zeit schwangeren Frau, die nach Worten der Menschenrechtsaktivistin Luiza Toscane bei der Ausweisung nach Tagen der Abschiebehaft ihr Kind verlor, und seinen Töchtern wurde Taoufik am 3. April 2003 nach Tunesien abgeschoben, obwohl dem Familienvater dort unter der Ben-Ali-Diktatur als bekennendem Anhänger der islamistischen Bewegung Ennahda Haft und Folter drohten. Der für die Asylpolitik und die Abschiebung damals verantwortliche Justizminister war Luc Frieden.
Vorgehen der Regierung scharf verurteilt
Mit der Abschiebung hatte Luxemburg gegen eine Konvention verstoßen, die besagt, dass niemand in ein Land abgeschoben werden dürfe, in dem ihm Folter drohe. Dies betonten sowohl Taoufiks Anwälte als auch die luxemburgische Menschenrechtskommission, die das Vorgehen der Regierung scharf verurteilte. Bis heute ungewiss ist, warum der Tunesier ausgewiesen wurde: Weil er gefälschte Papiere hatte oder weil er angeblich Terrorist war und einen Anschlag plante? Der damalige Premierminister Jean-Claude Juncker sagte gegenüber Journalisten und anderen Personen: „Seien Sie froh, dass er nicht mehr im Lande ist. Frau und Kind wurden mit ausgewiesen. Es soll niemand sagen, wir würden Familien auseinanderreißen.“
Nach seiner Abschiebung wurde Taoufik Salmi bereits am Flughafen von Tunis verhaftet. Er kam ins Gefängnis und wurde wochenlang gefoltert. Dies bestätigte seine Anwältin Radhia Nasraoui, die Taoufik mehrmals im Gefängnis besuchte. Die Wärter hätten den Inhaftierten gefesselt an die Decke gehängt und ihn am ganzen Körper geschlagen. Ein Terrorist sei ihr Mandant nicht, betonte die mehrfach ausgezeichnete Menschenrechtlerin, die selbst Repressionen in dem nordafrikanischen Land ausgesetzt war.
Taoufik kam nach sechs Jahren Haft wieder frei, wurde aber zu einer zusätzlichen Strafe von fünf Jahren unter behördlicher Kontrolle verurteilt. Täglich musste er sich bei einem Posten der Nationalgarde melden, mehr als 30 Kilometer von seinem Wohnort entfernt. Das hinderte ihn daran, eine feste Arbeitsstelle zu finden, um den Unterhalt für seine Familie zu bezahlen.
Die Strafe erwies sich faktisch als eine Art Hausarrest, denn Reisen war ihm nicht erlaubt. Es war ihm auch nicht möglich, seine Frau und seine Kinder zu sehen. Marcida und die drei Töchter waren während seiner Haftzeit bei der Familie von Fatma Riahi in Tunis untergekommen. Marcida ließ sich nach einiger Zeit scheiden und kehrte nach Bosnien zurück.
In „A Haunted Past“ ist Taoufik Salmi als ein trauriger und traumatisierter Mann zu sehen, der untröstlich und wütend zugleich erscheint über das, was ihm widerfahren ist. Er erzählt von den Spaziergängen mit den Kindern in den Wäldern Luxemburgs – und sorgt sich um die Zukunft seiner Töchter. Diese kennen ihr Geburtsland nur noch von wenigen Fotos. Auf einem ist ihr Vater mit Yamina zu sehen. Die Erinnerungen sind längst verblichen. Der 2018 fertiggestellte und von Al Jazeera produzierte Dokumentarfilm wurde auf mehreren Festivals gezeigt – unter anderen in Amsterdam, Costa Rica, Durban, Montreal und Toronto.
Pässe weggenommen und zerrissen
„Wir haben lange darüber nachgedacht, ob wir nach Europa kommen sollen“, sagt mir Khadija, die heute 21 Jahre alt ist. Die zwei Jahre ältere Imen pflichtet ihr bei: „Schließlich haben wir nie woanders gelebt als in Tunesien. Außer die ersten Jahre in Luxemburg.“ Während Yamina, die mittlerweile ein Kind hat, in Tunesien geblieben ist, besuchten die beiden Schwestern, bevor sie nach Luxemburg kamen, zuerst ihre Mutter in Bosnien. Marcidas Freude über das Wiedersehen ihrer Töchter habe sich in Grenzen gehalten, erzählt Imen. Sie seien im Haus ihrer Mutter nicht willkommen gewesen. Diese habe ihnen sogar ihre tunesischen Pässe weggenommen und zerrissen. Khadija und Imen besitzen sowohl die tunesische als auch die bosnische Staatsbürgerschaft.
Das ist außergewöhnlich. Normalerweise dauert es viel länger, bis man einen Termin bekommt. Doch hier scheint es so, als müsse alles besonders schnell gehen.Anwältin
Nach ihrer Ankunft in Luxemburg erhielten sie gleich am selben Tag ein Datum genannt, an dem sie bei der Einwanderungsbehörde vorstellig werden sollten. Am 20. November mussten sie in der „Direction de l’immigration“ erscheinen: Imen um neun Uhr, Khadija anderthalb Stunden später. „Das ist außergewöhnlich“, stellt ihre Anwältin Fatim-Zohra Ziani fest. „Normalerweise dauert es viel länger, bis man einen Termin bekommt. Doch hier scheint es so, als müsse alles besonders schnell gehen.“ Es handle sich in dem Fall weniger um eine „procédure accélerée“ als um eine „procédure ultra-accélerée“.
Die beiden Schwestern seien eindeutig anders behandelt worden als die üblichen Asylbewerber, die Antrag auf internationalen Schutz stellten, sagt Fatim-Zohra Ziani. „Die beiden sind benachteiligt worden“, vermutet die Anwältin. Sie weiß, dass das „droit du sol“ (ius soli), demzufolge ein Staat seine Staatsbürgerschaft an alle verleiht, die auf seinem Staatsgebiet geboren sind, hierzulande nicht gilt wie etwa in Frankreich – im Gegensatz zum „droit du sang“ (ius sanguinis), dem Abstammungsrecht. In Luxemburg gilt Letzteres mit eingeschränktem „ius soli“.
Bereits am 20. Dezember erhielten Khadija und Imen einen negativen Bescheid von der Einwanderungsbehörde. Mithilfe ihrer Anwältin gingen sie in Rekurs. „Die Frist lief bis 19. Januar“, sagt Fatim-Zohra Ziani. Die beiden Schwestern hatten Anfang des Monats gesagt bekommen, sie könnten in eine andere Aufnahmeeinrichtung in Mersch. Bisher waren sie in der „Structure d’hébergement d’urgence au Kirchberg“ (SHUK) untergebracht, einer in Blöcke eingeteilte Einrichtung mit Zelten – ohne Privatsphäre.
Doch sie bekamen mitgeteilt, dass aus dem Umzug nichts mehr würde. Einen Tag vor Ablauf der Rekurs-Frist sagte man ihnen im SHUK, dass sie nicht damit rechnen könnten, in Luxemburg bleiben zu können. Ein erneuter Versuch ist mittlerweile gescheitert. Fatim-Zohra Ziani sah eine letzte Chance darin, dass der zuständige Innenminister Léon Gloden den Kasus als außerordentlichen Fall einstufen würde.
Die Anwältin weiß, dass die Zeit knapp ist und zu zerrinnen droht. Vor zwei Tagen bekam sie schließlich eine Absage vom Büro des Ministers. Er empfängt die beiden Tunesierinnen nicht. Dagegen wurden sie bei der zuständigen Behörde vorgeladen, wo man ihnen sagte, dass sie freiwillig in ihr Herkunftsland zurückkehren könnten – oder abgeschoben werden.
Wobei der Begriff „Herkunftsland“ mehrdeutig ist: Khadijas und Imens Geburtsland ist Luxemburg, ihre tunesischen Pässe besitzen sie nicht mehr, weil ihre Mutter diese zerstört hat, also bliebe nur Bosnien. „Man würde sie dorthin abschieben werden, obwohl sie das Land so gut wie nicht kennen und dort nie gelebt haben“, betont Fatim-Zohra Ziani. Eine absurde Situation. Und eine doppelte Absurdität dazu, schließlich wurden sie schon vor 21 Jahren in ein Land abgeschoben, das sie nicht kannten. „Ich fühle mich verloren“, sagt Imen, „und frustriert.“ Khadija stimmt ihr zu. Auch sie empfinde so. Aber ihr Lächeln zeigt, dass sie die Hoffnung nicht aufgegeben hat.
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