Musik / Aiming for Enrike liefert den perfekten Jahresauftakt
Vor neun Monaten spielte Aiming for Enrike ein fulminantes Konzert in den Rotunden. Inzwischen hat das Duo aus Norwegen ein neues Album veröffentlicht, das neun Songs umfasst und zwischen verkopftem Math-Rock, tanzbaren Rocksongs und atmosphärischen Parts pendelt. Das Konzert am Dienstag war präzise und ließ in der zweiten Hälfte genug Raum für Improvisation und technische Brillanz – einen besseren Jahresauftakt hätte das Grapesound Collective kaum organisieren können.
Oft wird behauptet, das Leben sei kein Wunschkonzert. Meistens stimmt diese Binsenweisheit durchaus. Manchmal lässt einen das Leben aber für ein paar Stunden erblicken, wie es sich anfühlt, wenn sich unsere Existenz tatsächlich in das sprichwörtliche Wunschkonzert verwandelt. Als Aiming for Enrike vor neun Monaten die Bühne in den Rotunden verließ, um am Merch-Stand Platten zu signieren, gab ich dem Gitarristen Simen Følstad Nielsen zu verstehen, er solle doch noch mal zurück auf die Bühne, um ein Encore zu spielen. Simen schaute den Schlagzeuger Tobias Ørnes Andersen kurz an, sekundenlang dachte ich, das Duo aus Norwegen würde mir meine dreiste Anfrage spöttisch verweigern. Dann gingen die beiden zurück auf die Bühne, ich rief ihnen noch nach, „Newspeak“ (einer ihrer besten Songs) wäre eine optimale Zugabe, Simen nickte lakonisch und platzierte präzise den ersten Riff des Songs.
Während ihres zweiten Auftritts in den Rotunden stellte die Band ihre neue Platte vor, vor zehn Monaten sah die Setlist aber auch deswegen, weil die neun Tracks von „Music for Working Out“ bereits seit Jahren fester Bestandteil des Programms sind, nicht viel anders aus. Die erste Hälfte des Konzertes ist auf den Punkt präzise, die Band legt den Schwerpunkt auf die atmosphärischen, ruhigeren Songs, wovon die ersten beiden („Diving from Within“ und „Christmas Eve“) zeugen. Das ergibt durchaus Sinn, allerdings kommt das Duo deswegen etwas langsam in Fahrt – die improvisierten Passagen sind in der ersten Hälfte des Konzerts eher auf atmosphärische Interludes seitens Simen zurückzuführen. Wer die Band kennt, wünscht sich manchmal die wilden Improvisationen herbei.
Nachdem Aiming for Enrike mit „Front Runner“ vom Album „Las Napalmas“ einen ersten Exkurs in den Backkatalog wagte, folgen mit „Spice Girls“, Infinity Rider“, „Ponzu Saiko“ dann aber die schnellen Hits der neuen Platte. Tobias spielt sich in Rage und brilliert mit technisch einfallsreichen, komplexen und dennoch tanzbaren Rhythmen, während Simen auf die geloopten Riffs seine Gitarre malträtiert und zeitgleich die Effektpedalen so bespielt, als wären sie die Tasten eines futuristischen Synthesizers. Nach dem Konzert von Mutiny on the Bounty legen die Rotunden die Messlatte für technisch hochkarätige Rockmusik sehr hoch. Und schaut man sich das Programm der kommenden Monate an, weiß man, wo man die spannenderen Konzerte des Jahres erleben wird.
Tageblatt: Die neue Platte heißt „Music for Working Out“. Soll der Titel auf ein Konzeptalbum hindeuten, ist er ironisch zu verstehen, oder ist es eine Hommage an Brian Eno?
Simen Følstad Nielsen: Es ist all dies gleichzeitig. Der Titel soll durchaus als Kommentar darüber, wie Leute heutzutage Musik hören, fungieren. Man ruft eine Playlist je nach Tageslaune oder Moment ab, Musik wird zum pragmatischen Begleiter eines Tagesabschnitts. Klar ist der Titel aber auch als Hommage an „Music for Airports“ von Brian Eno zu verstehen. Meine Schwester meinte mal, sie würde unsere Musik beim Fitness hören. Da entstand die Idee.
Im letzten Jahr habt ihr jeden Monat einen Track veröffentlicht. Als das Album erschien, war bereits jeder Song der Platte veröffentlicht. Wie habt ihr diese zeitgenössische Veröffentlichungsmethode erfahren? Geht da nicht der Überraschungseffekt verloren?
Tobias Ørnes Andersen: Ich denke, es hätte eh keine Überraschung bei unseren Fans gegeben, da wir die meisten Songs der Platte seit Jahren auf Konzerten spielen.
Simen: Manchmal fühlt es sich so an, als würden verschiedene Songs auf einer Platte verloren gehen, weil sie im Schatten von anderen Tracks stehen. Mit der Entscheidung, jeden Monat einen Track zu veröffentlichen, wollten wir jedem Lied den gleichen Platz einräumen. Bei dieser Platte war das auch sinnvoll, weil fast jeder Song eine poppige Struktur hat und sich so zur Single-Auskopplung eignete.
Ihr redet von Popstrukturen. Ist es dies, was die neue Platte von den drei ersten Werken unterscheidet?
Simen: Ja und nein. Auf unseren vorigen Platten hatten viele Songs Popstrukturen, nur haben wir dies auf unserer neuen Platte etwas bewusster in den Vordergrund gebracht. Sound und Feeling sind es, die „Music for Working Out“ von den Vorgängern unterscheiden.
Bei euren Live-Shows wirkt es teilweise so, als wären die Studioaufnahmen eine Art Rohmaterial, dank dem ihr euch Freiraum für Improvisation schafft …
Tobias: Im Studio wollten wir eine fokussierte, präzise Platte aufnehmen. Live ist alles verspielter, wir improvisieren, fügen Effekte hinzu.
Simen: Während unserer Shows versuchen wir, auf unser Publikum einzugehen. Wenn ein Part dem Publikum gefällt, kann es sein, dass wir diese Passage auf der Bühne ausbauen. Tobias ist derjenige, der am meisten improvisiert. Ich habe, wegen der verschiedenen Effekte, Pedalen und Melodien, die ich langsam übereinanderschichte, weniger Freiheit. Aber das ist schon sehr gut so.
Tobias: Wenn sich das Publikum ruhiger verhält, kann es durchaus sein, dass Simen die atmosphärischen Gitarren in den Vordergrund stellt. Wenn das Publikum mehr auf die tanzbaren Songs aus ist, macht er das nicht.
Hört man euch auf Platte, kann man durchaus überrascht sein, dass ihr bloß zu zweit seid. Was sind die Vor- und Nachteile einer solchen Duo-Konstellation?
Simen: Es gibt eigentlich überhaupt keine Nachteile. Man muss sich halt an sehr präzise Verhaltensregeln halten. Dafür ist die Kommunikation sehr direkt. Wenn der eine etwas macht, muss der andere sofort darauf reagieren. Wenn man dann aufeinander eingespielt ist, ergibt das eine unglaublich tolle, vertrauliche Zusammenarbeit.
Wie tourt man eine neue Platte, deren Songs man eigentlich bereits seit Jahren gespielt hat?
Tobias: Wir wissen jetzt besser, wie die Songs klingen sollen, welche Effekte, welches Tempo am besten funktioniert. Bei der letzten Tournee waren die Songs noch nicht ganz fertig, wir haben mehr herumexperimentiert.
Simen: Normalerweise spielen wir während einer Tour bereits die nächste Platte. Diesmal haben wir allerdings so viel getourt, dass es kaum Zeit gab, neue Songs zu schreiben. Wir arbeiten an neuen Tracks und spielen vielleicht einige unfertige Sachen. Bisher besteht unsere Setlist eigentlich aus der neuen Platte, die wir quasi ganz durchspielen, zwei oder drei Songs von den alten Platten und einen neuen Track, der es nicht auf das Album geschafft hat.
Ihr tourt neue Platten, bevor ihr sie veröffentlicht. Wie wertet ihr das Konzept hinter der neuen 65daysofstatic-Platte, die ja auch während dem Touren entstand, und die auf Live-Coding und zufällig von Maschinen generierten Klängen basierte? Spricht euch diese Form des Musikschreibens an?
Simen: Ich mag nichts, was zufällig ist. Viele Effekt-Pedalen werben damit, einen Zufallsknopf zu haben. Ich verstehe nicht, wieso man mit so was wirbt. Ich überlasse ungern etwas dem Zufall. Davon abgesehen gibt es eigentlich kaum etwas, was wir nicht versuchen würden – das Konzept erscheint mir auf jeden Fall sehr interessant.
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