Klangwelten / Avantgarde mit Herz: Die neue E.P. von Sufjan Stevens
Im Endeffekt war „Aporia“, die fast gänzlich instrumentale Platte, die Sufjan Stevens mit seinem Stiefvater und Label-Mitbegründer Lowell Brams aufnahm und im April veröffentlichte, nur das „Amuse-Bouche“: Vor drei Wochen kündigte Sufjan an, dass Ende September sein nächstes reguläres Album erscheinen würde. „The Ascension“ wird 15 Songs beinhalten und mit einer Dauer von 81 Minuten deutlich länger als sein akustischer Vorgänger, das einfühlsame Meisterwerk „Carrie & Lowell“, auf dem Stevens meist nur mit akustischer Gitarre die psychisch kranke Mutter Carrie, die Beziehung zu Stiefvater Lowell und den Bundesstaat Oregon erwähnt, der im Zentrum der Platte stand. Ob „The Ascension“ ein übergeordnetes Thema haben wird, ist noch ungewiss.
Soll „America“, der zwölfminutige Album-Closer und die A-Seite der (auf Vinyl bereits vor der Veröffentlichung ausverkauften) eponymen E.P. für die kommende Platte stilistisch ausschlaggebend sein, würde dies nach „Carrie & Lowell“ die Rückbesinnung auf Sufjans experimentellere Seite, die er auf „The Age of Adz“ zur Schau stellte, bedeuten. Der Track erinnert zunächst in seiner Mischung aus klassischem Singer-Songwriter-Elementen (die Melodieführung) und elektronischen Elementen (die Synthies, die Beats) an einzelne nach „Carrie & Lowell“ veröffentlichte Songs wie „Tonya Harding“ oder „Exploding Whale“ – wenn nach fünf Minuten dann aber ein instrumentaler Part beginnt, über den sich der eingängige Chorus „Don’t do to me what you did to America“ legt, fühlt man sich an die experimentelle Seite von „Aporia“, an Sufjans „Planetarium“-Zusammenarbeit und an „Impossible Soul“, den 26-minütigen Closer von „The Age of Adz“ erinnert. Wenn der Song nach einer dicht orchestrierten Kakofonie zur Ruhe findet und die letzten beiden Minuten mit einem melancholischen Klavierpart und schönen Background-Vocals ausklingen, ahnt man bereits, dass Stevens neue Platte den Höhepunkt eines wegen der Pandemie bisher kulturell tristen Jahres darstellen könnte.
Die B-Seite „My Rajneesh“ ist mit elf Minuten fast genau so lang wie die A-Seite und stellt eine beeindruckende Reise durch die facettenreichen Klangwelten des Musikers dar. Benannt ist der Song nach Sektenguru Bhagwan Shree Rajneesh, der auch im Zentrum der Netflix-Serie „Wild Wild Country“ steht. Zu Beginn klingt der Track mit seinen akustischen Gitarren und Sufjans Falsett wie ein Outtake von „Carrie & Lowell“ (wie „America“ wurde „My Rajneesh“ während der Aufnahmen dieser Platte geschrieben), nach vier Minuten aber wird der Song zunehmend progressiver und knüpft, u.a. durch den Einsatz von Autotune an „The Age of Adz“ an – das Flötensample ist ein sehr konkreter Verweis auf den Song „Vesuvius“. Beide Tracks sind gewagt, experimentell und opulent orchestriert: Sufjans Musik gibt sich nicht (mehr) mit der Schönheit eingängiger Melodien zufrieden und stellt den Zuhörer vor eine organische Verzahnung von digitalen und analogen Klängen. Wer sich auf beide Tracks einlässt, wird mit mutiger Musik belohnt: Das hier ist Avantgarde mit einem pulsierendem Herz. (Jeff Schinker)
Bewertung: 9/10
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