Klangwelten / „Curiosity is a real bastard“: Die siebte Platte von Long Distance Calling
Knapp zwei Jahre, nachdem die deutsche Post-Rock-Band mit „Boundless“ (2018) eine Rückkehr zu ihrer (instrumentalen) Form feierte, liefert das Quartett mit „How Do We Want to Live?“ ein starkes Konzeptalbum über die Beziehungen zwischen Mensch und Maschine. Das Tolle dabei: Fast alle Songs sind meisterhaft komponiert, wunderbar produziert und erweitern die Klangpalette von Long Distance Calling um ein paar sinnvolle Nuancen.
Das kommt einem doch bekannt vor? Für den Titel ihrer mittlerweile siebten Studioplatte hat sich Deutschlands beste Post-Rock-Band wohl stark an Tocotronics Kultplatte „Wie wir leben wollen“ inspiriert. Aber auch wenn Long Distance Calling keinen Innovationspreis für den Albumtitel gewinnen wird, so hat das Quartett aus Münster seine Klangpalette für die neue Platte gehörig aufgestockt – was teilweise auch dem Konzept hinter dem Album geschuldet sein dürfte.
„How Do We Want to Live?“ stellt die Beziehung zwischen Mensch und Maschine in den Vordergrund, was auf klanglicher Ebene durch zahlreiche gesampelte Erzählstimmen, wie man sie auch von Nordic Giants oder From Monuments To Masses kennt, und den stärkeren Einsatz von Synthies und Beats zum Ausdruck kommt.
Im Zeitalter von Tracing-Apps und ständigem Google-Monitoring verschwimmt die Grenze zwischen dystopischem und utopischem Zusammenleben von Mensch und Technologie zunehmend – weswegen sich die Frage, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen, auch für kulturelle Produktionen immer dringlicher stellt.
Im zweiteiligen Opener „Curiosity“ erwartet den Zuhörer ein Wirrwarr an Stimmen, das sowohl inhaltlich als auch formal das übergreifende Leitmotiv der Platte ankündigt: Ein Chor von gesampelten Stimmen philosophiert u.a. über den Ursprung des menschlichen Schaffenstriebes. Das Timbre der verschiedenen Stimmen klingt jedoch so aalglatt, wie computergenerierte Stimmen es nun eben tun, sodass dem Zuhörer zeitgleich signalisiert wird, dass hier Künstliche Intelligenz versucht, sich an die Eigentümlichkeiten der menschlichen Spezies zu assimilieren.
Diesem dystopischen Gedanken wird im Laufe der Platte jedoch zumindest musikalisch ordentlich etwas entgegengesetzt: In den besten Momenten von „How Do We Want to Live?“ wird das Zusammenwirken von Mensch und Maschine als Möglichkeitsbedingung zur Erforschung künstlerischen Neulands inszeniert. Nachdem sich eine tribale Perkussion, die mitunter an die letzte Platte von Tool erinnert, unter das Stimmengeflecht gesetzt hat, nimmt „Curiosity“ in seinem zweiten Teil an Fahrt auf. Die elektronischen Elemente des Songs werden von treibendem Schlagzeug und wunderbar präzisen Gitarrenriffs begleitet, irgendwann taucht in der progressiven Songstruktur ein Gitarrensolo auf, das die Bandvorliebe für die Gitarrenhelden der 70er und 80er unterstreicht – und zeigt, dass die Präzision und Wärme eines gekonnten Gitarren-Bendings wohl noch lange Zeit den Maschinen vorenthalten bleiben dürfte.
Die Vorabsingle „Hazard“ gehört zu den stärksten Songs der Platte – hier sitzt jeder einzelne Ton, der Song verarbeitet in seinen knapp sechs Minuten mehr Melodien als so manche generische Post-Rock-Band auf Albumlänge und die Produktion lässt die Feinfühligkeit der Instrumentierung und den Ideenreichtum der einzelnen Musiker sehr deutlich durchscheinen.
„How Do We Want to Live“ ist gespickt mit Referenzen an die eigene Bandgeschichte (die Arpeggi auf „Voices“ verweisen auf „Apparitions“, die bedrohlich-gleichgültige Erzählstimme am Anfang von „Ashes“ auf den Beginn von „Into The Black Wide Open“), zeitgleich traut sich das Quartett hier definitiv mehr als sonst.
So untermalt „Voices“ ein wundersames Gitarrengeflecht mit tribaler Perkussion und betörenden, gesampelten Gesangsstimmen, die den Vocals, die Nils Frahm am Ende seiner „All Melody“-Tour in seinen Klangkathedralen verwob, nicht ganz unähnlich sind – nur um dann mit gewohnter Härte und harmonisierenden Gitarren auf ein kathartisches, grandioses Finale hinzusteuern.
„Fail/Opportunity“ war bereits auf der Live-Platte „Stummfilm“ (2019) vertreten, auf dem kurzen Intermezzo treffen Trip-Hop-Atmosphäre und Beats auf schwelgende Streicher – ein definitives Plattenhighlight. Beeindruckend sind auch das folgende „Immunity“, das mit seiner Härte wie bereits „Boundless“-Closer „Skydivers“ an Russian Circles erinnert, und „Sharing Thoughts“, das sich mit sanft tröpfelndem, an 65daysofstatic und Nine Inch Nails erinnerndes Klavier, clever geschichteten, nervösen Gitarren, die der neuen Platte von Maserati gutgetan hätten, und schönen Streichern in ätherische Höhen hangelt.
Schade nur, dass die Platte gegen Ende leicht nachlässt. Die Vocals auf „Beyond Your Limits“ sind vielleicht Geschmackssache, wer aber „Trips“ mochte, wird der Band danken, dass sie hier nochmal die Richtung von leicht poppigem Alternative-Metal einschlägt. Auf das industrielle Intermezzo „True/Negative“ folgt „Ashes“ – ein Song, der als Rausschmeißer fast gänzlich ohne Spannungsbogen auskommt und der strukturell besser in der Albummitte aufgehoben gewesen wäre. Schlecht ist keiner dieser drei Songs – aber angesichts der Ausnahmequalität der ersten beiden Drittel von „How Do We Want to Live?“ hinterlässt „Ashes“ einen leicht fahlen Nachgeschmack. Trotzdem: Eine bessere Post-Rock-Platte wird man 2020 kaum hören. (Jeff Schinker)
Das Debüt beinhaltet bereits das stilistische Blueprint der Band, auch wenn die progressiven Kompositionen weniger geschliffen als auf dem Nachfolger sind. „Jungfernflug“ wurde schnell zur Band-Visitenkarte und darf auch heute noch bei kaum einem Konzert fehlen.
Das Meisterwerk. Mit „Black Paper Planes“, „Apparitions“ oder „I Know You Stanley Milgram!“ wurden hier progressive Post-Rock-Hymnen für die Ewigkeit geschrieben – zwischen harten Riffs und einem irren Gespür für Struktur und Melodie hat die Band die Messlatte für kommende Platten unerhört hoch gelegt.
Auf „Long Distance Calling“ sind die Songs weniger lichtdurchflutet als auf „Avoid The Light“, die Riffs teilweise wuchtiger. Die Platte kann dem Vorgänger nicht ganz das Wasser reichen, mit „Into The Great Wide Open“, „The Figrin D’an Boogie“ und „Arecibo (Long Distance Calling)“ sind hier aber auch starke Songs vertreten.
Der Kurswechsel. „The Flood Inside“ ist die erste von zwei Platten, die verstärkt auf Vocals setzen. Die Tracks mit Gesang sind nur leicht geradliniger, am besten bleiben aber auch hier instrumentale Songs wie der Opener „Nucleus“, der gewohnt spannend strukturiert ist und ein beeindruckendes Blues-Solo in den Mittelpunkt stellt.
Das Experiment. Cheesy Synthies, ein Opener, der wie ein Soundtrack zu Serien aus den 80ern klingt, knackige Alternative-Metal-Songs, die von Petter Carlsens toller Stimme getragen werden – mit „Trips“ stößt die Band langjährige Fans definitiv vor den Kopf. Leider sind hier auch die instrumentalen Tracks weniger stark als gehabt. Trotzdem: Songs wie „Trauma“ und „Reconnect“ wissen zu gefallen.
Die Rückbesinnung. „Boundless“ ist der wahre Nachfolger von „Avoid The Light“. Das Openerduo „Out There“ und „Ascending“ ist eine Wucht und vermittelt ganz deutlich, dass sich die Band hier auf alte Stärken beruft. In den restlichen, gänzlich instrumentalen Songs wird herumexperimentiert, die Platte klingt dennoch wie aus einem Guss, was der beeindruckenden Ideenvielfalt geschuldet ist.
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