Deutscher Buchpreis / Das Leben ohne Bedienungsanleitung: „Streulicht“ von Deniz Ohde
„Du bist Deutsche“: In Deniz Ohdes Debutroman kehrt die Erzählerin zurück in den von Industrieschnee bedeckten Ort, in dem sie aufgewachsen ist, und erinnert sich an eine Kindheit und Jugend zwischen Fremdenfeindlichkeit und Arbeiterklasse. „Streulicht“ erzählt in naturalistischem Stil von Ausgrenzung, Gewalt und Klassenunterschied.
„Du fühlst dich aber gut integriert, oder?“, meint eine Lehrerin, als die Erzählerin im Oberstufengymnasium einen Aufsatz zum Thema Identität schreiben soll und ihr erzählt, dass ihre Mutter Türkin ist. Mit „Du musst doch bestimmt sowieso viel zu Hause helfen“ legitimiert eine andere Lehrerin, dass Abendschulabsolventin Cansu trotz guter Noten nur auf die Hauptschule geschickt wird – dann muss sie auch „nicht so lange Bus fahren“. „Wie kann es sein?“, wundert sich eine weitere Lehrerin, weil die Erzählerin so gut in Englisch ist. Als sie später an der Uni studiert, denkt ein Dozent, sie würde zu den Erasmus-Studenten gehören, und bezeichnet sie und eine tatsächliche Auslandssemester-Studentin als „Freunde aus dem Ausland“.
„Streulicht“ ist nur oberflächlich ein Bildungsroman über ein junges Mädchen, das den Entschluss fasst, seinen Heimatort zu verlassen, um die Gewalt, das Arbeitermilieu, die Langeweile, die Perspektivlosigkeit und die Fremdenfeindlichkeit hinter sich zu lassen. Der Roman veranschaulicht vor allem die verschiedenen Ausgrenzungsformen, die sich zwischen den Zeilen dessen, was ausgesprochen wird, manifestieren. In einer Schlüsselszene wird die mündliche Prüfung über Austins Sprechakte ad absurdum geführt, weil ebendieses Examen einer soziolinguistischen Analyse nicht standhält: Was bei der Prüfung zählt, ist nicht nur das, was gesagt wird, sondern auch das Machtgefüge, das die sprechenden Personen umgibt.
Sprache ist stets auf der Seite derer, die an der Macht sind: „Streulicht“ funktioniert auch als empirische Ergänzung von Austins soziolinguistischer Forschungsarbeit und veranschaulicht, wie man mit Sprache nicht nur „Sachen machen kann“, wie es in Austins euphemistischem Essay-Titel heißt, sondern auch und vor allem Gewalt ausüben kann. Gewalt ist dabei nicht ausschließlich, aber hauptsächlich verbal: Wenn die Erzählerin Fremdenfeindlichkeit beobachtet, meint die blonde, privilegierte Sophia bloß, sie würde „die Dinge eben immer gleich persönlich“ nehmen oder sich was einbilden (1) – nicht wissend, dass Bildung wie Einbildung das Privileg gehobener Klassen sind. Als sie bei einer Unfallübung beleidigt wird – ein Klassenkamerad äußert den Begriff „Kellerkinder“, es fällt aber noch „ein anderes Wort mit K“, bevor sie angerempelt wurde –, erklärt die Mutter: „Du kannst nicht gemeint sein. Du bist Deutsche.“
Die Ausgrenzung, die sie tagtäglich erleidet, will die Erzählerin alleine deswegen nicht theoretisieren, weil sie an der Uni die Gewissheit erhält, dass akademische Forschung stets auf der Seite derer ist, die den Verhaltenskodex des „rechtschaffenen akademischen Lebens“ bereits in die Wiege gelegt bekommen. Bei Ohde liegt der Teufel der Ungleichheit im Detail: Weil die Mädchen von Hexen, Vampiren und Geistern fasziniert sind, besitzt die privilegierte Freundin Sophia eine Bibi-Blocksberg-Figur, die Erzählerin hat allerdings nur einen Donald Duck aus einem Überraschungsei, von dem sie so tut, „als wäre er eine Hexe“ – die Unausweichlichkeit sozialer Konditionierung liest sich bis in die von Kendall Walton thematisierten Make-Believe-Spielchen der Kleinkinder.
Sophia „hat sich den Ort zu eigen gemacht“, da, wo die Familie der Erzählerin in den Zwischenräumen, an den gesellschaftlichen Rändern, lebt. Sophias Welt ist von den semantischen Eckpfeilern Reithalle, Turnverein und Kirche umzäunt, die Erzählerin bewegt sich zwischen der Kneipe, den Reihenhäusern und dem Industriepark. Sich gegen eine solche Konditionierung aufzulehnen, erscheint unmöglich: „Ich habe in einer Grammatik gelebt, in der sich wehren von vornherein nicht vorgesehen war.“ Stattdessen hat sich die Erzählerin angepasst, wie ein „Oktopus am Meeresgrund“.
„Wie kann es sein?“
Ohde verdeutlicht, wie manche durch ihre Bildung und ihre soziale Herkunft mit einer Bedienungsanleitung fürs Leben ausgestattet sind, die sich andere, wenn überhaupt, dann nur mit Mühe und unter Leugnung des eigenen Hintergrunds, aneignen müssen. So muss Ohde die Figur von Sophias Mutter gar nicht umfassend beschreiben, das Pars pro toto einer detailliert aufgelisteten Schminkausstattung, die die Erzählerin im Badezimmer vorfindet, reicht völlig – die dazugehörigen Einfamilienhäuser „mit Sicherheitsabstand“ kann sich der Leser danach nur allzu gut vorstellen.
Wie sich ein Leben ohne eine solche Bedienungsanleitung und die damit einhergehende Leichtigkeit anfühlt, das erfährt die Erzählerin tagtäglich zu Hause – in der Unbeholfenheit des Arbeitervaters, der aus Angst vor der Not stets zu viele Lebensmittel einkauft. Der nichts wegwerfen kann, der sich selbst einschränkt, der nach dem Tod der Mutter „nicht die Mittel hat, Abschied zu nehmen“ und deswegen nutzlose Gegenstände der verstorbenen Ehefrau aufbewahrt. Trotz der Gewalt, trotz der Wutausbrüche wird die Figur des Vaters im Gegensatz beispielsweise zum ersten Roman von Edouard Louis nicht als Monster, sondern vielmehr als Opfer dargestellt: So erwähnt sie seinen „Arbeiterstolz“, seine „aus der Not geborene Arroganz“, die „Selbstbeschränkung“.
Wie sich das Leben ohne Bedienungsanleitung anfühlt, erfährt sie auch durch die Unterwerfung der Mutter, durch deren leisen Weggang, sie lernt es dadurch, dass sie zu Hause gezwungen ist, ihr ganz eigenes „Wörterbuch“ zu studieren – ihres ist ein eigenes Zeichensystem, das ihr und der Mutter das Überleben sichert. In diesem Zeichensystem ist die eigene Lautlosigkeit, die sie als „charmante Eigenschaft“ zu tarnen versucht, und mit der sie über ein neues Loch in der Tapete hinwegschweigt, wesentlich.
Über die Klassenunterschiede hinaus teilen sich alle Ortseinwohner die Perspektivlosigkeit, die Langeweile, das Gefühl, in einem Wartesaal auf ein besseres Leben, das niemals kommen wird, zu hoffen. „Einmal der Ort, immer der Ort“ – dieser Spruch klebt auf einem Plakat in einem Schaukasten am Friedhofseingang, er will verkünden, dass die Verstorbenen noch unter uns weilen, klingt aber eher schauerlich als tröstlich.
„Hier gibt es tatsächlich alles“
Der Industriepark hat den Ort, aus dem die Erzählerin stammt, nachhaltig geprägt: Dunkel wird es dort nie – bei Nacht „glüht der Park wie eine riesige gestrandete Untertasse“ –, still auch nicht, hört man doch jederzeit das beständige Brummen der Anlagen. Die Luft ist dicker, „als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte“, und selbst der Industrieschnee hat eine andere Beschaffenheit, ist klebriger als anderswo. Für Außenstehende „macht es was her“ – aber denen gelingt es auch, „auszublenden“, was dort produziert wird.
Wie sein geologisches Umfeld hat der Industriepark auch seine Einwohner geformt, skulptiert: Die Figuren bleiben im klebrigen Industrieschnee gefangen wie die Einwohner von Pompeji. Trotz dem von der Erzählerin beschriebenen Gefühl einer hintergründigen Spannung passiert hier kaum was von Bedeutung. „Es gab nichts zu erleben bei mir zu Hause“, meint sie. Als sie Jugendfreund Pikka in dessen Keller wiedertrifft, wirkt es, „als hätte sich in den letzten Jahren rein gar nichts geändert“.
„Alles wurde älter und verfiel, nichts verging, nichts starb und fing von vorne an, auch nicht, wenn man es mit Gewalt versuchte, wenn man sich in die Luft jagte, und auch nicht, wenn man sehr leise verschwand.“ Für die Erzählerin, die scheinbar als Einzige davon träumt, den Ort eines Tages zu verlassen, sind dies die beiden einzigen Ausbruchsoptionen: sich in die Luft jagen, wie es 1996 eine unbekannte Frau während einer Christmette tat, oder, wie die Mutter, eines Tages ganz leise verschwinden.
Selbsterfüllung bedeutet im Ort hauptsächlich, die Existenzen der Eltern nachzuleben: Die Erzählerin fühlt sich wie „die Hauptdarstellerin in einem Film, kurz bevor die Handlung einsetzt.“ Den Bedarf nach Handlung verspüren die meisten ihrer Jugendfreunde nicht. Ihre Jugend verbringt sie im Keller zwischen Shisha-Rauch, Rammstein-Postern und einer Black-Sabbath-Best-of, die in Dauerschleife läuft, von Pikka, der den gleichen Spitznamen wie sein Vater trägt und sich seine Zukunft im Ort mit einer „abgeklärten Vorfreude“ vorstellt. „Meine Welt endete am Saum des dunklen Feldes“, schreibt die Erzählerin – und hofft, dass die Welt ihre Aussage Lügen straft. Ohde berichtet in einem naturalistischen, präzisen, abgeklärten Stil, in einer Sprache, deren Nüchternheit sich der einfachen Vendetta entzieht, vom Versuch einer Emanzipation.
Überhaupt scheint der Ausbruch aus diesem klebrigen, schmutzigen Ort fast unmöglich, die meisten Figuren treten so sehr auf der Stelle, dass das Wegziehen in eine Wohnung ein paar Straßen weiter bereits einen radikalen Bruch darstellt: So kehrt der Vater der Erzählerin nach sieben Jahren bereits ins Elternhaus zurück – offiziell, um dem alternden Vater, den man ins Erdgeschoss verlagert, im Haushalt auf die Sprünge zu helfen, in Wirklichkeit aber, weil die Mutter so hofft, die Wutausbrüche des Vaters durch die Gegenwart des Großvaters einzudämmen. Nach dem Tod des Großvaters kehrt dann auch die Mutter zurück.
Die Mutter, deren Tod die schönsten Seiten eines meist pathosfreien Romans inspiriert. Die Mutter, die stets den Fernseher ausschaltete, wenn wieder mal „eingespielte Fernsehaufnahmen von älteren Frauen mit gemusterten Kopftüchern und schweren Aldi-Tüten, die immer nur von hinten gefilmt werden“ liefen. Die Mutter, die den zweiten, „geheimen“ Namen der Erzählerin geheim hielt, um sie vor der Fremdenfeindlichkeit der Deutschen zu schützen.
(1) In „Real Life“ von Brendan Taylor, das auf der Shortlist des Booker Prize steht, gibt es eine sehr ähnliche Szene.
Info
Streulicht, von Deniz Ohde, 2020 Suhrkamp-Verlag
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