Interview / Eklektische Identitätssuche: Im Gespräch mit der Indie-Band Tuys
Der Launch von Tuys’ neuer konzeptuellen Songserie „A Curtain Call for Dreamers“ wurde vom Coronavirus sabotiert, der Probesaal in der Rockhal wurde dichtgemacht. Die luxemburgische Indie-Band ließ sich nicht entmutigen, komponierte im Home-Office und hat ihr Headquarter in ein idyllisches Chalet in Küntzig verlagert. Wir haben uns dort mit der Band über ihre neuen Tracks, das Musikschreiben im Lockdown und die Konsequenzen der Pandemie für die Live-Industrie unterhalten.
Tageblatt: Wie frustrierend waren die plötzlichen Absagen gerade zum Zeitpunkt, zu dem ihr neue Musik veröffentlicht wolltet?
Tun Biever: Wir waren dabei, unsere neue Songsammlung zu launchen. Am 12. März haben wir noch geprobt, die Video-Release zum neuen Track „Papaya“ sollte am Folgetag im Utopia Premiere feiern. Kurz danach hat sich herausgestellt, dass unser Probesaal in der Rockhal geschlossen hat und wir uns nicht mehr sehen durften. Montags haben wir uns entschieden, dass jeder für sich, aus der Quarantäne heraus, arbeiten würde. Das war schon frustrierend, denn der schönste Moment – der Zeitpunkt, zu dem neue Musik erscheint und man sie anderen Menschen zeigen kann – wurde uns genommen. Reaktionen zu den Songs gab es ausschließlich online. Aber wir konnten die Zeit nutzen, um die Tracks im Netz zu pushen, die Videos fertigzustellen und an neuen Songs zu schreiben. Den Veröffentlichungsplan – alle sechs Wochen kommt ein neuer Track mit Videoclip – konnten wir trotzdem einhalten.
Sam Tritz: Sonst hast du nach den Konzerten oder wenn du am Wochenende unterwegs bist Feedback von Freunden erhalten. Das hat sich auf eine natürliche Art ergeben. Dass dies plötzlich ganz wegfällt, war schon sehr sonderbar.
Yann Gengler: Andererseits konnten wir unser Ding kompromissloser durchziehen. Auf den neuen Songs und in den Videos begehen wir teilweise Neuland. Weil wir von dem Rest der Welt abgekapselt waren, fiel es uns leichter, dahinterzustehen.
Wie viele Auftritte sind konkret weggefallen?
Tun: Wir hatten einige Festivalauftritte im Sommer geplant, die jetzt wegfallen. Wir wissen zurzeit noch nicht, ob unsere Tournee im November und Dezember stattfinden oder verlegt wird. Dazu gesellen sich einige Showcases – zum Beispiel während des Reeperbahn-Festivals –, die bisher nicht abgesagt sind. Für die Musikszene sieht die Situation nicht rosig aus – wenn sich die Lage normalisiert, wird der Markt übersättigt sein. Viele Konzerte sind verlegt, sodass diese im Herbst oder im Winter mit den dort bereits geplanten Gigs aufeinanderprallen. Da Musiker und Bands jetzt viel Zeit zum Schreiben haben, wird es zudem viele Neuerscheinungen und Tourneen auf einmal geben, die Anzahl verfügbarer Slots wird aber limitiert sein, da man wohl zumindest zu Beginn die Live-Industrie erst langsam wieder ankurbeln wird. Die Situation wird noch kompetitiver, als sie es bisher war, was die Sache für eine junge Indie-Band wie unsere nicht erleichtert.
Sam: Bisher befanden wir uns in dieser Lockdown-Blase, in der wir uns auf das fokussierten, was wir in dem Moment tun konnten. Ich denke, die wahren Konsequenzen der Pandemie werden wir erst nach und nach am eigenen Leib erfahren.
Wie verlief der Schreibprozess aus der Distanz?
Sam: Vor dem Lockdown hatten wir quasi eine einjährige Testphase, weil Tun an der Uni war. So übten wir uns darin, aus der Distanz zu arbeiten. Das war in dem Sinne vorteilhaft, weil wir eine Weile brauchten, um mit der Technik klarzukommen.
Tun: Mittlerweile arbeiten wir folgendermaßen: Wir proben, entwickeln aber auch unsere eigenen Ideen zu Hause. Wir schicken uns die Sessions zu, jemand fügt dann eine Basslinie, ein Sample, eine Melodie hinzu.
Yann: Ich habe seit dem Lockdown den gesamten Probesaal der Rockhal hier zu Hause liegen. Das erlaubt es mir, viel herumzuexperimentieren.
Hat dieser Kompositionsprozess den Bandklang beeinflusst?
Yann: Dadurch dass wir auch einzeln Songteile schreiben, können wir unsere persönlichen, individuellen Vorlieben einflechten und den anderen erklären, wie wir diese Klangelemente verstehen. Der Schreibprozess wird zu einer Art Patchwork –danach arbeiten wir die Elemente auf und fügen sie zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen.
Tun: Den elektronischen Kompositionsprozess kann man definitiv durch die individuellere Arbeit am Rechner ableiten – das Auseinandersetzen mit Computerprogrammen hat es uns erlaubt, verschiedenes auszuprobieren und unserer Vorliebe für elektronische Klänge einzubinden. Im Probesaal bist du im klassischen Indie-Rock-Format gefangen – die Gitarren müssen laut sein, um gegen das Schlagzeug anzukommen. Mit dem neuen Kompositionsprozess konnten wir uns aus unserer Komfortzone herausbewegen. Die einzelnen Identitäten schälen sich präziser heraus – und wir hatten einfach Bock, Musik zu schreiben, die weird ist.
Entspricht diese Wende einem allgemeinen Trend im Indie-Rock?
Tun: Dass Elektroeinflüsse in den Indie-Rock hineinfließen, ist keineswegs neu – bereits das zweite Album der Foals hatte starke elektronische Einflüsse. Bei uns war es eine Reihe von Zufällen, die zum neuen Klangbild führte: Während der Aufnahmen von „Swimming Youth“ haben wir in Jan Kerschers Studio viel mit Synthies gearbeitet.
Sam: Eigentlich wollten wir beim vorigen Album schon verstärkt diese Richtung einschlagen …
Tun: … aber wenn du mit fertig geschriebenen Indie-Songs ins Studio gehst, nimmst du die dann auch so auf – die elektronischen Elemente sind dann eher schmückendes Beiwerk. Hier war es so, dass wir uns an den Rechner setzten und dachten: Ein Song muss nicht immer auf einem Gitarrenriff basieren, vielleicht kann man ja auch mit einem Sample beginnen.
Für die Songserie „A Curtain Call for Dreamers“ setzt ihr stärker als sonst auf das Verzahnen von Bild und Ton, es entsteht fast eine kleine Fiktionswelt. Was steht hinter dem Konzept?
Tun: Knapp zwei Jahre, nachdem wir unsere letzte Platte veröffentlicht hatten, begannen wir, an einer Reihe von eklektischen Tracks zu arbeiten, die verschiedene Richtungen einschlagen sollten und in denen wir pro Track einer bestimmten Thematik nachgehen, Identitäten ausarbeiten, verschiedene Charakter schaffen, die vielleicht ein Teil von uns sind. Wir suchten dafür einen visuellen roten Faden, der sich durch die Songs zieht. Im Video von „Papaya“ taucht bspw. die Figur des Briefträgers auf, die im zweiten Clip dann wiederkehrt und im Zentrum des dritten Videos stehen wird. Die Serie hat eine metafiktionale Dimension – wir weben die Set-Elemente in das Video ein, sodass der Zuschauer sich bewusst wird, dass wir ihm eine konstruierte Fiktionswelt vorführen. Die Idee einer verzerrten Wirklichkeitsauffassung, die sich in einer entstellenden Metafiktion aufdrängt, passt in die Zeit der Pandemie, in der die Realität, wie wir sie kennen, brüchig wurde. Als wir den zweiten Clip drehten, war es Teil des Konzepts, dass die Figur, die ich spiele, in einer Wohnung eingesperrt ist. Wir konnten damals nicht ahnen, dass die Realität die fiktionale Situation überholen würde. Das Stilmittel wurde zur Lebenssituation.
Welche Themen und Stile kennzeichnen die Serie?
Yann: In „More than an Account“ geht es um soziale Medien und Digitalisierung, der Song klingt deswegen auch überdigitalisiert. Auf „Papaya“ versuchten wir, in einem Song, der toxische Maskulinität verhandelt, durch Cheesiness ein formales Echo zur Thematik zu finden.
Tun: In der Serie gibt es globale Themenfelder wie das Theater und die Traumwelt. Die einzelnen Tracks sind, wie Yann es bereits andeutete, thematisch spezifischer: In „More Than an Account“ geht es darum, dass wir uns alle zu sehr in digitalen Sphären verlieren, „Hungry for More“, das am 12. Juni erscheinen wird, zeigt die Absurdität unseres Strebens – wer in einer Beziehung ist, sehnt sich nach dem Single-Dasein, wer Single ist, beschwert sich, allein zu sein. Das werden wir im Clip mithilfe der Figur des Briefträgers untermalen. Im vierten Song wird es wieder konkreter – es geht darum, dass unsere Gesellschaft ihre Kinder zu früh zur Schule schickt und damit ihre Träume ruiniert.
Ihr wollt euch stärker auf eure Musikerkarriere fokussieren. Wie wertet ihr die in Luxemburg verfügbaren Professionalisierungsmöglichkeiten?
Tun: Wenn wir im Ausland touren und anderen Bands erzählen, welche Möglichkeiten und Subventionen es hierzulande gibt, schämen wir uns fast. Die Rockhal ist unser Arbeitsplatz, die Menschen im Rocklab sind über die Jahre quasi zu Freunden geworden, das Sonic-Visions-Festival hat es uns erlaubt, unser Team zusammenzustellen. Das Exportbüro music:LX hat uns eine Menge Auslandsauftritte beschert. Es fällt uns schwer, da Kritikpunkte zu finden. Es gab eine Zeit, zu der es nicht sehr transparent war, welche Musiker music:LX unterstützen würde. Aber auch das hat sich in letzter Zeit stark verbessert. Unser jetziges Projekt könnten wir ohne Subventionen gar nicht durchführen. Wobei wir unsere ersten beiden Videos damals selbst finanziert haben. Das können sich die meisten jungen Musiker hierzulande gar nicht mehr vorstellen.
Ihr arbeitet zurzeit an einem Album. Darf man bereits etwas darüber erfahren?
Tun: Für das Album suchen wir eine Albumidentität, im Rahmen derer wir aber ausschweifen können. Ein Manko unserer EP ist das Fehlen einer gewissen Kohärenz. Wir haben mit fünf verschiedenen Produzenten gearbeitet – das war eine bewusste Wahl, und es hat uns viel gebracht, aber das Resultat ist eklektisch, es fehlt eventuell an einem roten Faden. Wir möchten uns nicht auf ein Genre beschränken, suchen aber trotzdem nach einer kohäsiven Identität, die die Ideen und Vorstellungen von vier verschiedenen Menschen subsumiert.
Info
„Ketchup on my Knees (Hungry for more)“, der dritte Song der Serie, erscheint am 12. Juni
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