Max-Ophüls-Festival / Familiengeheimnisse und Hommage an eine Legende: „Die Kleider meines Vaters“ und „L’art du silence“
Familie ist ein kompliziertes Konstrukt. Man kann es sich nicht aussuchen und ob es Paradies oder Hölle ist, liegt an den Beteiligten. In „Anima – Die Kleider meines Vaters“ nimmt Regisseurin Uli Decker die bürgerliche Fassade ihrer Familie auseinander. Ihr Vater war Transvestit. „Die Kunst der Stille“ ist eine Hommage an Marcel Marceau, dessen Familie sein künstlerisches Erbe aufrechterhält. Die Idee zu diesem Film hatte der Sohn eines taubstummen Pantomimen.
Manchmal ist nichts, wie es scheint. Nach dem Tod des Vaters bleibt eine geheime Kiste. Der Inhalt: künstliche Fingernägel, hochhackige Pumps und Schminke. Sein Sterbebett ist die Geburtsstunde von „Anima – die Kleider meines Vaters“. Dort erfährt Regisseurin Uli Decker, dass ihre Familie nicht die ist, die sie vorgibt zu sein.
Im Verborgenen lebt der Vater seine Seite als Transvestit aus. Heimlich fährt er ins nahegelegene München, um sich selbstbewusst als Frau verkleidet durch die Großstadt zu bewegen. Niemand ahnt davon. Im echten Leben fügt er sich, selbst streng katholisch erzogen, als angepasster Familienvater mit Ehefrau und zwei Töchtern der Sozialkontrolle eines kleinen bayrischen Dorfes.
Die Mutter offenbart den beiden Töchtern am Sterbebett nicht nur das Geheimnis ihres Vaters. Der älteren eröffnen sich dadurch Parallelen zur eigenen Suche. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die wenig Probleme mit dem plüschigen Rosa eines echten Mädchendaseins hat, klettert sie lieber auf Bäume und will später Pirat oder Papst werden. „Wir hätten uns sicher viel zu erzählen gehabt“, wird sie an einer Stelle dieses autobiografischen Films sagen.
Rollenverständnis und Geschlechterfrage
Ihr eigenes Hinterfragen und die quälende eigene Suche blendet die Regisseurin in animierten Bildcollagen ein. Das Bild des Vaters prägen Zeitzeugen, Fotos der BRD in den sechziger und siebziger Jahren und die zitierten Auszüge aus seinem Tagebuch. Zu zeigen, wer man ist, egal ob das der zugedachten Rolle in der Familie entspricht, erfordert Mut. Der Vater bringt ihn nur gegenüber seiner Frau auf, den Töchtern gegenüber wirkt er oft abwesend und vor allem traurig.
Der Film ist ein berührendes Werk über Familiengeheimnisse und Geschlechterfragen. Stilistisch überraschen die Wechsel zwischen Animation und Historischem in dieser Dokumentation mit starken autobiografischen Zügen. Mit der wachsenden Bedeutung der LGBT Community und mit dem Einzug des Genderns in den allgemeinen Sprachgebrauch gewinnen die Fragen, die der Film aufwirft, Brisanz und ungeahnte Aktualität. „L’art du silence“ verfolgt ein anderes Anliegen.
Als Clown „Bip“, der mit weißem Gesicht im Ringelhemd und mit verbeultem Zylinder und roter Blume dem Ernst des Alltags trotzt, ist Marcel Marceau (1923-2007) unvergessen. Niemand beherrschte die Kunst, ohne Worte etwas zu sagen, was man nicht sagen darf, so gut wie er. Was nur wenige wissen: Dieses Können ist ein Produkt der Bedrohung und des Widerstands im Zweiten Weltkrieg.
Marceau heißt eigentlich Mangel, ist Jude und erlebt die Deportation seines Vaters aus Straßburg. Er geht in den Widerstand und rettet 250 jüdische Kinder aus Frankreich in die Schweiz. Von ihm lernen sie, eine andere Identität zu spielen, sich bei Gefahr ruhig zu verhalten. In die Rolle eines anderen zu schlüpfen und dabei ausgelassen zu sein oder lachen zu können, wird zu Marceaus Paraderolle. Er selbst erreicht damit Legendenstatus.
Ohne Worte etwas sagen
„L’art du silence“ oder „Die Kunst der Stille“ dokumentiert diese Kunst. Die Familie ehrt sein Erbe, inszeniert den großen Pantomimen im Kulturzentrum nahe Straßburg neu. Für den Vater des aus der Schweiz stammenden Regisseurs Mauritius Staerkle Drux ist Pantomime eine willkommene Form, sich in seiner stillen Welt auszudrücken. Er ist taubstumm. Der Sohn ist in Saarbrücken kein Unbekannter. 2015 seziert er mit „Die Böhms“ im Wettbewerb Dokumentarfilm die Familie des großen Architekten Gottfried Böhm. Die lobende Erwähnung bei Max Ophüls war ihm sicher.
„L’art du silence“ hat alles, was einen guten Dokumentarfilm ausmacht. Archivszenen seiner Auftritte, O-Töne von Marcel Marceau und erstmals auch seiner Familie sowie eine spannende Verknüpfung mit dem Heute in Form des Vaters des Regisseurs. Das Verdienst des Films ist es, die Kunst Marceaus in neues Licht zu rücken und den tragischen Hintergrund des künstlerischen Schaffens der Legende zu beleuchten.
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