Theater / „Faxen im luftleeren Raum“: „Ode“ von Thomas Melle
Dass Satire alles darf, ist in Zeiten der Cancel Culture längst nicht mehr wahr – aber wie weit darf die Kunst noch gehen, und wie sehr zieht sie sich in vorauseilendem Gehorsam den eigenen Maulkorb über? In Thomas Melles „Ode“ ist die Welt eine überfüllte Tanzfläche, auf der sich die Kunst, behutsam darauf achtgebend, ja niemandem auf die Füße zu treten, in Richtung Tresen schleicht, um dort ihre eigene Irrelevanz zu feiern.
Spätestens seit Jacques Schiltz’ „Tod“ (Anführungszeichen sind manchmal halt doch relevant) wird im Kasemattentheater regelmäßig die längst hinfällige Hierarchisierung zwischen Bühne und Publikum dekonstruiert. In dieser Spielzeit hat das Theater scheinbar überhaupt keine Lust, seine Bühne zu bespielen: Nachdem Marie Jung in „Schwester von“ das Publikum-Parterre umkreiste und erst in den letzten Minuten der Aufführung die Bühne bestieg, wird besagtes Parterre nun für „Ode“ in eine Kunstgalerie verwandelt, in der eine Vernissage stattfindet.
Zu Beginn schlendert das Publikum um ein in der Mitte stehendes, wie ein verspätetes Osterei eingehülltes Kunstwerk und bekommt hirschblauen Kulturhauptstadt-Crémant angeboten, zwei Künstler (Raoul Schlechter, Lis Dostert) und zwei Mitglieder der „Wehr“, einem Zusammenschluss „verantwortungsvoller“ Bürger*innen (Nickel Bösenberg und Konstantin Rommelfangen), mischen sich unter das Publikum und kommentieren noch vor seiner Enthüllung das neue Werk der umstrittenen Künstlerin Anne Fratzer (Frédérique Colling).
Ihr gewollt schlechter Pinselstrich, das „rabaukig Blöde“ ihrer Kunst, ihr Status (ein Substantiv, das verschiedene im Fall Fratzer mit zwei „a“ schreiben würden – denn „sie ist eine Komplizin der Macht“, urteilt ein Künstler), Karl Marx: Der Unterbau der ästhetischen Debatte ist auch hier Kulturgossip, wie man ihn hierzulande genügend kennt.
Unterbrochen wird das wirre Streitgespräch von der Künstlerin selbst, die ihr Werk in einer kurzen Rede vorstellt, bevor der Schleier fällt. Ihr „Objekt reflexiver Staatskunst“, das aus Nichts besteht – ein Nichts, das „sehr großzügig“ von „der Finanzgruppe Marbusch unterstützt wurde“ –, soll, Achtung, Doppelskandal, „Ode an die alten Täter“ heißen. Einem Gerücht zufolge war der ursprüngliche Titel gar „Ode ans KZ“.
Hassrede gemeldet
Dass das Werk polarisiert, ist somit mehr als intendiert: Zwischen aufgebrachten Verteidigern der politischen Korrektheit, skandalisierten Steuerzahlern, der faschistischen Wehr, die unter dem Deckmantel des Kunstschutzes dubiose identitäre Fragen aufwärmt („um meinen Rassismus anzuklagen, musst du erst einmal die Unterstellung des Rassismus annehmen, es gäbe überhaupt Rassen“), um danach wie die Königin von Lewis Carrolls „Alice in Wonderland“ zur Köpfung der Künstlerin aufzurufen, gerät die von Fratzer geplante Polemik zunehmend aus den Fugen.
„Ode“ fragt nach dem allgemeinen Zustand zeitgenössischer Kunst, die sich nach Duchamps Pissoir und Malewitschs „Carré blanc sur fond blanc“ in die abstrakte Sackgasse des „Anything Goes“ bewegte, und greift zeitgleich das Thema deutscher Vergangenheitsbewältigung im Kulturbereich auf, bevor sich das Stück nach und nach damit auseinandersetzt, was Kultur im Allgemeinen und das Theater insbesondere noch darf – und wie sehr verschiedene zeitgenössische Denkbewegungen schlicht und einfach zu kurz greifen und dadurch die Diskussion über die Welt dort draußen verpassen.
Zentrum dieses sehr wandelbaren Stücks, dessen verschiedene Sequenzen, wie zuletzt auch im von Claire Thill im Kapuzinertheater inszenierten „The Writer“, allesamt die Frage der Notwendigkeit der Erneuerung von Form und Inhalt im angestaubten, unzeitgemäßen, vom Patriarchat dominierten Theaterbetrieb stellen, ist dabei der Sockel von Fratzers Werk.
Im zweiten Akt wird letzterer zum Bühnenbild: Orlando (Raoul Schlechter) möchte zum zehnten Todestag von Anne Fratzer eine Probe zum Lehrstück „Ode an die alten Täter“, das die Entstehungsgeschichte dieses Kunstwerks nacherzählen soll, abhalten, stößt sich aber bereits bei der ersten Szene daran, dass seine Mitwirkenden die Notwendigkeit der eröffnenden Vergewaltigungsszene nicht einsehen – und sie gar als problematisch, wenn nicht sogar als gänzlich undarstellbar empfinden.
„Ich will weder spreizen noch gaffen“
Was sehr schnell zu sehr ins Pastiche Schlingensiefscher Provokation hätte verfallen können – die Wehr stampft karikaturenhaft davon, viele Dialoge werden im aufbrausendem Chor gebrüllt –, wird durch ein Kaleidoskop an Positionen und Streitgesprächen zu einem vielschichtigen Porträt einer Zeit verdichtet, die sich in der eigenen Fragestellung nach den Grenzen der Darstellbarkeit verheddert – und immer mehr aus den Augen verliert, was Kunst eigentlich ist.
So wird die Kunst nur noch negativ („Kunst ist aber keine Sozialarbeit, und Kunst ist kein Journalismus, Kunst ist keine Politik und Kunst ist auch kein Henkertum“) oder aphoristisch definiert – und das Spektrum der Empathie kriegt dabei gleich ein Korsett gestrickt: „Ab jetzt darfst du nur noch über dich erzählen (…) und nie von anderen unter dir.“ Aber würde die migrantische Putzfrau „es nicht vielleicht begrüßen, wenn einer ihre Geschichte erzählte“, fragt Orlando, und meint damit, dass er, der seit 3.000 Jahren vom Theater Dauerprivilegierte, sich liebend gerne um dieses Nacherzählen kümmern würde.
Melles Theater ist dabei sowohl politisch-ästhetischer Diskussionsraum als auch der Versuch einer Dekonstruktion ebendieses Raumes, in dem an der Außenwelt vorbeidiskutiert wird: Es geht hier um den sogenannten „definition gap“ („Die Bösen haben unsere guten Begriffe gekapert“), es geht um eine Welt, in der Fiktion segregiert und Empathie abgeschafft werden soll, es geht um eine Bühne, auf der jeder nur noch sich selbst spielen darf, es geht um Theatermenschen, die behaupten, „Realität zu machen“ aber, wie die Figur des Barton Fink im gleichnamigen Kultfilm der Coen Brüder, in der selbstreferenziellen Nabelschau namens Kunst gar nicht mehr wissen, was Realität überhaupt ist, kurzum: Es geht um nichts weniger als die Abschaffung, oder zumindest die Infragestellung aller ästhetisch-ethischen Konzepte, auf denen die Mimesis seit Aristoteles fußt: „Wir zeigen hier den Tod des Theaters“, verkündet Orlando mit viel Pathos, bittet dann aber darum, diese Szene auf keinen Fall zu streichen.
„Wir machen hier Realität“
Dass Melles Stück dennoch nicht zur reinen ästhetisch-politischen Debatte verkommt, liegt daran, dass „Ode“ ausreichend Spielsituationen bietet, deren humoristisches Potenzial von Wolfgang Hagemanns verspielter Inszenierung und seinen herausragenden Darsteller*innen – Rommelfangen und Bösenberg sind sowohl bedrohlich als auch lächerlich als Vertreter der Wehr, Schlechters naiv-narzisstischer Orlando ist grandios, Colling spielt ihre Fratzer zugleich provokant und sensibel und Dostert schlüpft fließend von einer Rolle in die nächste – vollends ausgeschöpft wird.
Hagemanns Melle-Adaptierung bietet intelligentes, forderndes, aber auch lustiges Theater, das nicht nur die Cancel Culture, sondern auch seine eigene Verkopftheit auf die Schippe nimmt – weswegen man die letzte Vorführung dieser vielschichtigen „Ode“ an die Kunstfreiheit heute Abend nicht verpassen sollte.
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