Theater / „Free Jazz mit Fußfessel“: „Madame Köpenick“ von Guy Helminger im Kasemattentheater
In seiner feministischen Metakomödie belichtet Guy Helminger den späten Lebenslauf des Hauptmanns von Köpenick aus der Perspektive seiner luxemburgischen Vermieterin, zieht Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart und hinterfragt eine Geschichtsschreibung, in der Frauenfiguren oftmals nur am Rande stehen.
„Ja, klar, der ist gerade hundert Jahre tot. So was feiert man gerne und nennt es Kultur“, kommentiert die Schauspielerin Brigitte Urhausen das Theaterstück, in dem sie gerade spielt. Statt staubtrockener Historiografie und distanzloser Hagiografie wählt der zurzeit hyperaktive Guy Helminger historiografische Metafiktion und feministische Neuschreibung, um das späte Leben und den Luxemburger Aufenthalt von Wilhelm Voigt, der als Hauptmann von Köpenick in die Geschichte einging, nachzuerzählen.
Weil die kultige Figur bereits in Filmen und Theaterstücken, darunter Carl Zuckmayers Komödie „Der Hauptmann von Köpenick“, verdichtet wurde und die historische Person im Laufe der Jahre zu einer Art fiktionalem Palimpsest geworden ist – was fast ironisch anmutet für eine Person, die durch ihren Hang zur Verkleidung bekannt wurde –, verzichtet Helminger auf eine allzu getreue Nacherzählung, lässt die Schauspieler ihre Rolle kommentieren und fokussiert sich auf die Figur der Émilie Blum-Bernier (brillant: Brigitte Urhausen), von der man weniger weiß – weswegen man „ein bisschen schreiben und interpretieren kann, wie man will“.
Wie es der Mythos will, ging Köpenick durch seine Gaunereien in die deutsche Sprache ein – 1906 drang er als Hauptmann verkleidet in das Rathaus von Köpenick ein und raubte die Stadtkasse, seither redet man von einer Köpenickiade, um eine gewisse Form der Hochstapelei, die von der (deutschen) Obrigkeitshörigkeit profitiert, zu bezeichnen. Nach 30 Jahren Knast verschlägt es den mittlerweile 60-jährigen Voigt nach Luxemburg, wo er bei der Witwe Émilie Blum unterkommt. Über das Verhältnis zwischen den beiden weiß man wenig, über die Person der Émilie Blum noch weniger – weswegen der Autor hier die poetische Lizenz nutzt, um den beiden einen turbulenten Alltag hinzuzudichten.
Die Sache mit der Metafiktion
Was dem Zuschauer hier geboten wird, ist nicht etwa ein fertiges Stück, sondern eine Probe. So wird spielerisch auf eine hypothetische Uraufführung hingewiesen, die im Stück als unerreichbarer Horizont fungiert: „Madame Köpenick“ verweilt im ewigen Limbo der Probe, es wirkt so, als kommentiere Helminger implizit, dass viele weibliche Figuren dieser Zeit es nie auf die Bühne der Geschichtsschreibung gebracht haben.
Die Verflechtung von nachgestellter Geschichte und Metaebene erlaubt es Helminger, Parallelen zwischen den Epochen zu zeichnen: Gemeinsamkeiten zwischen den Suffragetten und der #MeToo-Bewegung, der Spanischen Grippe und der Covid-19-Pandemie, damaliger und heutiger Selbstdarstellung – Voigt verstand bereits 100 Jahre vor Facebook, wie er mit seinem zweifelhaften Ruf für Aufmerksamkeit sorgen konnte –, verdeutlichen, dass die Menschheitsgeschichte keineswegs teleologisch, sondern zyklisch ausgerichtet ist.
Brigitte Urhausen und Michael Schrodt schlüpfen dabei ständig in und aus ihrer Rolle, schimpfen mit der Regie, zanken sich (auf metafiktionaler Ebene sind die beiden Darsteller bis vor kurzem noch ein Paar gewesen), während das schlichte Bühnenbild von Dagmar Weitze zeitgleich als historische Kulisse und Theaterbühne hinhält und der Zuschauer mitunter auch Teil der Inszenierung wird – was speziell dann, wenn er zum Grabstein degradiert wird, auf eine unheimliche Art wirkungsvoll ist. Coleridges „suspension of disbelief“ wird hier durch das ständige Hin und Her zwischen Spiel und Kommentar, Theater und (vermeintlicher) Wirklichkeit mit Füßen getreten: Schrodt hofft auf einen Anruf von Netflix und gräbt die Freundin eines befreundeten Schauspielers an, Urhausen bemängelt seine miese Performance.
Das ist durchaus lustig und dank der geschickten Regieeinfälle von Kay Wuschek oft sehr wirksam, mitunter, weil Helminger und seine ausgezeichneten Darsteller das Frauenbild von damals auf der Metaebene nicht nur kritisch begutachten, sondern eben auch auf den Kopf stellen: Als Urhausen Schrodt, der gemütlich Zeitung liest, während sie den Boden fegt, vorschlägt, den Spieß umzudrehen und ihm den Feger in die Hand drückt, meint dieser nur platt: „Wir interpretieren ein Stück, das in den Jahren 1909 bis 1922 spielt. Da hat kein Mann sich mit Staub beschäftigt.“
Nur manchmal ist die Doppelebene etwas zu klamaukig (das Eifersuchtsdrama zwischen Manfred und Lisa): Das postmoderne Spiel mit der Metaebene ist etwas in die Jahre gekommen, wer heute, wie es die Regie betont, gegenwärtig sein möchte, sollte sich hüten, einen inflationären Umgang mit dem Metarahmen zu praktizieren.
Manchmal will diese Komödie ein wenig zu viel, wirkt wie ein wildes Themensammelsurium, in dem Geschichtsschreibung, Feminismus, eine (stellenweise sehr berührende) Auseinandersetzung mit unserer Sterblichkeit, die Rolle der Dichtung in dem Ausfüllen von Lücken in der Historiografie, Pandemie und Paranoia verdichtet werden. Wie so oft bei Helminger geht es aber letztlich um das Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit, Geschichtsschreibung, Wahrheit und Fiktion: Wie verpackt man Tatsachen im Theater, über wie viel Freiheit verfügt der Autor, was tun, wenn eine Figur sich gegen den ursprünglichen Titel des Stücks – „Der Hauptmann von Luxemburg“ – auflehnt und eine Erwähnung im Titel verlangt? Bei Helminger wird die Metalepse feministisch – und das ist definitiv ein spannender Ansatz.
Info
Das Stück läuft noch heute Abend um 20.00 Uhr im Kasemattentheater, bevor es in Berlin auf der Vaganten Bühne aufgeführt wird.
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