Klangwelten / Igorrr entführt in einen ganz neuen Kaninchenbau
Zwar ist das Ohr ein Wunder der Natur, dennoch ist das, was es leisten kann, sehr begrenzt. Die hörbaren Töne sind bekannt, die Noten geschrieben. Die Kunst und die Wissenschaft des Komponierens ist es, immer neue Kombinationen zu finden, die, wenn nicht wohlklingend, dann doch wenigstens interessant oder irgendwie stimulierend klingen.
Musik läuft bei mir rund um die Uhr. Nun da auch bei mir Home-Office angesagt ist, sehen sich meine Nachbarn konfrontiert mit einer eklektischen Auswahl von Musik, die sie wahrscheinlich gar nicht hören wollen: Camouflage, Grausame Töchter, Eivør, King Dude, System of a Down, The Cure, Diablo Swing Orchestra, Panzer AG, Therion, 1349, Heilung, Whispering Sons, Acht Eimer Hühnerherzen, Devin Townsend …
Aber auch der beste Riff, der härteste Drop und die cleverste Fuge werden regelmäßig langweilig, Ohr und Hirn verlangen nach einer neuen Rekombination und dann ist es gut, dass der Algorithmus der Musikplattform meiner Wahl mich mittlerweile kennt und selbst in der Kakofonie, die meine oben beschriebene Playlist nun einmal ist, noch ein Muster erkennt.
Dieses Mal hat mich die tonangebende künstliche Intelligenz mit auf eine Reise genommen in die Welt des französischen Musikers Gautier Serre, Künstlername Igorrr, und sein neues Album „Spirituality and Distortion“. Serres Musik lässt sich am besten beschreiben mit dem Namen des dritten Tracks des Albums: Very Noise.
Serre kombiniert Dinge, die auf den ersten Blick gar nicht zusammen funktionieren können. In seiner Musik mischt er (Black-)Metal, Breakcore und Barockmusik. Während Metal und Barock jedem ein Begriff sein dürften, bedarf Breakcore vielleicht einer Erklärung. Dabei handelt es sich um eine schnelle und schlagzeuglastige Spielart elektronischer Musik, die Serre mit den anderen Musikstilen alterniert und zusammenfügt. Ein Musterbeispiel dafür ist der Track „Nervous Waltz“, in dem Serre wie ein verrückter Dirigent alle Register seines Orchesters zieht: Streicher, Chor, Gitarrenriffs, Blastbeat, Computer und Klavier. Im Track „Musette Maximum“ wiederum kommt neben dem gutturalen Gesang, wie wir ihn vom Metal kennen, das Akkordeon zum Einsatz. In „Kung-Fu Chèvre“ wiederum kommen Einflüsse aus Folk, Metal, Electronica und eine jazzige Bassline zusammen. Serre findet innovative Kombinationen, die weit über die ausgelutschte Metal-und-Symphonieorchester-Zusammenarbeit hinausgehen.
Das Album ist, genau wie das vorherige, „Savage Sinusoid“, jede Reise in diesen Kaninchenbau der französischen Avantgarde wert. Vor allem eine Empfehlung für Menschen, denen es schwerfällt, sich zwischen Johann Sebastian Bach, Cannibal Corps und Aphex Twin zu entscheiden. Hier kriegt man alles zusammen in einem genial geschnürten Paket. Danke Algorithmus. (Yves Greis)
Bewertung: 9/10
Anspieltipps: Nervous Waltz, Very Noise, Barocco Satani
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