Im Gespräch / Keine schlechte Zeiten für Jazz: Schlagzeuger Benoît Martiny über das neue Album „Moons of Uranus“
Das neue Album von Benoît Martinys Band und Gästen ist ein ausuferndes Konzeptalbum, das Anleihen aus Krautrock und Free-Jazz mit Versatzstücken aus Reggae und Progrock hybridisiert. „Moons of Uranus“ ist der Live-Mitschnitt eines Konzertes, das 2019 in der Philharmonie eingespielt und improvisiert wurde – und das Martiny zum Anlass nehmen wollte, um 2020 zum großen Konzertjahr zu gestalten. Wegen der Pandemie wurden fast alle Frühjahrs- und Sommerkonzerte abgesagt, innerhalb eines Monats starben dann mit Steve Kaspar und Itaru Oki gleich zwei der auf dem Album eingeladenen Gäste. Pessimistisch zeigt sich Martiny dennoch nicht: Wir haben uns mit dem Schlagzeuger im städtischen Interview getroffen.
„2020 sollte eigentlich ein BMB-Jahr (Benoît-Martiny-Band, Anm. der Red.) werden“, erklärt uns der charismatische Schlagzeuger während unseres Treffens im Interview. Hier erscheint die Welt fast normal – nur die Eiseskälte, die ins Café eindringt und die der sicherheitsbedingten, dauerhaften Durchlüftung der Kneipe geschuldet ist, erinnert daran, dass wir in Ausnahmezeiten leben. „Aber dann wurden im Frühjahr alle zehn Konzerte, die ich geplant hatte, abgesagt.“
Das Release-Konzert sollte während des Echterlive-Festivals stattfinden, hier hatte Martiny gehofft, einige Silberlinge abzusetzen: „Wenn du als Musiker noch an altbackenen Formaten wie CD- oder Vinyl-Veröffentlichungen festhältst, dann brauchst du 20 Konzerte, um das überhaupt rentabel zu gestalten. Viele Menschen haben heutzutage nicht mal mehr einen CD-Spieler. Mittlerweile wissen wir etwas präziser, wer unsere Musik hört: Unsere Fans sind oftmals Menschen, die die 70er-Jahre selbst durchlebt haben und sich folglich für Krautrock und Psychedelia begeistern können. Und so einige davon kaufen Platten.“
Krautrock steht neben Free-Jazz-Experimenten im Zentrum von „Moons of Uranus“. Benoît Martiny schuf die „Grand Cosmic Journey“, weil er die Soundpalette seines Quintetts erweitern wollte: „Damals hatten wir Lust, am ‚Like a Jazz Machine‘-Festival teilzunehmen. Danielle (Igniti, damalige Leiterin von opderschmelz, Anm. der Red.) fand, dass meine Musik für die Ausrichtung des Festivals ein wenig zu rockig wäre. Da ich eh den Drang verspürte, Musik zu komponieren, die etwas subtiler wäre, und verstärkt in Richtung Jazz gehen wollte, rief ich das Projekt ins Leben.“ Es war der Beginn einer kosmischen, psychedelischen Reise.
Weil Band, Publikum und Kritiker zugleich Gefallen am Projekt fanden, entschied man sich, eine zweite Reise zu wagen. Spannend ist dabei nicht nur die Hybridisierung des Genres, sondern auch die Liste der Gastmusiker: Für die kosmische Reise führt Martiny Musiker aus den unterschiedlichsten Welten zusammen.
Kollision der (Klang-)Welten
Nachdem Martiny ein Album mit Bassklarinettist und Free-Jazz-Koryphäe Michel Pilz aufgenommen hatte, rekrutierte er für das Veröffentlichungskonzert zwei weitere Mitstreiter, die später zu einem wichtigen Bestandteil von „Moons of Uranus“ werden sollten: Für das Konzert hatte Martiny niemand Geringeres als Klangcollagen-Spezialist und Avant-Garde-Soundtüftler Steve Kaspar und den Free-Jazz-Trompeter Itaru Oki gewinnen können. „Beim Konzert fühlte ich mich, als würde ich mit alten Weisen spielen, die mich in ihren eklektischen Kreisen aufgenommen hätten“, begeistert sich Martiny.
Sowohl Kaspar wie auch Oki waren 2019 beim Live-Mitschnitt in der Philharmonie dabei, beide sind allerdings vor kurzem verstorben. Itaru Oki starb am 25. August, Steve Kaspar am 5. Oktober. „Als ich Anfang September Steve anrief, um ihm die Nachricht vom Tode Okis mitzuteilen, zeigte er sich zutiefst betroffen. Ich versprach, ihm die Platte von ‚Moons of Uranus‘ vorbeizubringen. Dazu sollte es leider nicht mehr kommen.“ Natürlich stimmt dies Martiny umso trauriger, da das abgesagte Echterlive-Konzert vielleicht eine der letzten Gelegenheiten gewesen wäre, diese Musiker live zu erleben. „Aber irgendwo ist es auch schön, den beiden noch mal die Gelegenheit gegeben zu haben, ihre Musik auf einer Platte einzuspielen. Vielleicht sind dies die letzten Aufnahmen der beiden?“
Zu den Free-Jazz- und Avant-Garde-Musikern gesellen sich Sänger Jean Bermes, dessen theatralische Aura Martiny faszinierte, Martinys Ehefrau Renata van der Vyver an der Bratsche (beide sind eher im Bereich der Klassik tätig), zwei Saxofonisten sowie Keyboarder Leon den Engelsen, der sonst mehr mit Elektro-Formationen tourt – „eigentlich nicht so ganz meine Welt, ich bin vielleicht zu sehr in den 70ern verankert und oft erscheint mir elektronische Musik rhythmisch zu voraussehbar“, meint Martiny.
„Da ich das Konzept für mich sehr deutlich definiert hatte, konnte ich einen klaren Rahmen setzen. Trotzdem habe ich den verschiedenen Musikern sehr viel Freiheit gelassen – was bei einem im Free-Jazz verankerten Projekt und wegen der Persönlichkeit der Musiker unumgänglich ist. So besteht ‚Kaspars Dream‘ aus einer von Steves Soundcollagen, die wir als Improvisationsbasis genutzt haben.“ Bei einem Projekt, das so unterschiedliche Musiker und Genres zusammenbringt, bewegt man sich stets in einer Risikozone. „Das macht die Musik erst spannend“, meint Martiny, der prompt einen Patzer im letzten Track des Albums analysiert – und rückblickend meint, dieses zuerst als Unstimmigkeit empfundene Segment würde zum besten Moment der Platte gehören.
Patzer mit Charme
„Auch wenn ich diesen Rahmen geschaffen hatte – das, was innerhalb dieser Sphäre passieren würde, konnte ich nur teilweise mitbestimmen. Hätten wir die Live-Aufnahme vermasselt, hätte es keine Platte gegeben, wenn wir nach dem zweiten Song nur noch improvisiert hätten und mit dem Resultat zufrieden gewesen wären, hätten wir die Platte dennoch veröffentlicht.“ Vor der Live-Aufnahme (mit Publikum) gab es eine dreitägige Residenz in der Philharmonie – und am vierten Tag wurde eingespielt. „Eigentlich war das Timing perfekt: Zur Zeit des Konzerts fingen wir an, genau zu wissen, wohin wir wollten und was passieren sollte, es blieb aber noch genug Unsicherheit, in der sich die Improvisation einnisten könnte.“
Für die Live-Aufnahme entschied man sich auch aus praktischen Gründen: „Wenn wir ein Konzert geben und anschließend im Studio aufnehmen, kostet es mehr Zeit, Aufwand und Geld.“ Und die Platte hätte ihren Momentaufnahme-Charakter verloren, weil man die vermeintlichen Patzer glattgebügelt oder herausgeschnitten hätte.
Für das Projekt benutzte Martiny vier Kompositionen, um die man herumimprovisieren konnte, der Schlagzeuger fügte dann noch eine „Klischee-Space-Story“ als konzeptuellen Überbau hinzu – „weil ich Konzeptalben mag, auch wenn sich heute alles nur noch um die Kurzlebigkeit von Singles dreht“ – und fertig war das Konzept. „Wenn ich mir die Platte jetzt anhöre, fallen mir ein paar Längen auf, weil ich während des Konzerts aufgeregt war, kamen mir diese Momente jedoch viel kürzer vor. Es ging mir aber auch darum, den Zuhörer auf diese Reise mitzunehmen und etwas Ausdauer von ihm zu verlangen.“
Denn einerseits ist unser Alltag von Hektik und Stress geprägt, andererseits ist es die Ausdauer, die das Leben eines Musikers ausmacht. „Wenn du jung bist, denkst du, der Erfolg kommt einen Monat nach der Veröffentlichung deiner ersten Platte. Hätte man mir damals gesagt, dass ich von 1.000 gedruckten Platten 500 verschenken und 500 verkaufen würde – das hätte meine Leidenschaft sicherlich gebremst. Im Laufe der Jahre übst du dich in Geduld. Ein junger Musiker wird gehypt. Dann wird er 30, irgendwann wird er 40 und das mediale Interesse flacht ab. Deswegen gilt es, mit Ausdauer und Durchhaltevermögen auf der kulturellen Landkarte zu bleiben. Irgendwann darf ich vielleicht im großen Saal der Philharmonie spielen – weil da jemand sitzt, der denkt: ‚Der ist jetzt schon so lange dabei, es wäre vielleicht mal an der Zeit, ihm die Halle zu überlassen.‘“ (lacht)
Abbruzzese und Martiny
Aus diesem Grund lässt sich Martiny auch nicht von den vielen pandemiebedingten Absagen entmutigen. „Als wir feststellten, dass unsere Auftritte ins Wasser fallen würden, haben wir verstärkt in die Verkaufsförderung der Platte investiert. Wir haben eine Anzeige in der Sticks geschaltet – der Zeitschrift für Schlagzeuger. Später hat mich der Chefredakteur angerufen und wollte ein Interview mit mir machen. Er meinte, unsere Musik würde ihm gefallen. Ich dachte erst: Das ist der Höhepunkt meiner Karriere. Ich habe mein erstes Interview mit einem Musiker in der Sticks gelesen. Es war ein Gespräch mit Pearl-Jam-Drummer Dave Abbruzzese, der ‚Vs.‘, die zweite Platte seiner Band, vorstellte. Danach kaufte ich mir die Platte – und war total begeistert. Ich hatte diese Zeitschrift abonniert. Und jetzt wollten die ein Interview mit mir. Klar, das wird trotzdem nur eine geringe Anzahl an Menschen erreichen – aber symbolisch stellte es für mich trotzdem eine schöne Errungenschaft dar.“
Touren konnte Martiny trotzdem ein bisschen: „In vier Tagen waren wir in drei Ländern. Und für Jazzkonzerte ist dies eigentlich keine schlechte Zeit, da dort eh nur 30 Menschen erscheinen. Da kann man doch echt gut für ‚Social Distancing‘ sorgen.“ (lacht) Nach einer Release-Show im Kulturhaus Niederanven – „35 Leute, hauptsächlich Freunde und Familie, aber immerhin waren wir ausverkauft!“ – und einem Auftritt in der Kulturfabrik spielte die Band noch vor 100 Menschen in Paris und in der saarländischen Stage Rock Bar, wo das Publikum zwar weniger zahlreich erschien, dafür aber mehr Platten kaufte. „Wichtig ist, dass die Menschen uns unterstützen, indem sie beispielsweise Platten kaufen. Nur so können wir verhindern, dass die Musikszene in Pandemiezeiten ausschließlich durch staatliche Gelder überlebt. Aber wenn die Musiker mittlerweile Angst haben, aufzutreten – was ich manchmal beobachten konnte –, dann haben wir echt ein Problem.
Info
In den heutigen Klangwelten (auf Seite 4, 5 in der Magazin-Beilage) lesen Sie die Besprechung zu „Moons of Uranus“. Die Platte können Sie auf der Band-Homepage bestellen. Die nächsten geplanten Auftritte finden am 28. November im Rahmen des Luxembourg Jazz Meeting und am 4. Dezember im Flying Dutchman statt.
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