/ Klangwelten: Radiohead-Sänger veröffentlicht sein neues Solo-Album
Während die Welt weiterhin auf ein neues Radiohead-Album hofft, veröffentlicht Sänger Thom Yorke mit „Anima“ sein drittes Solo-Album. Das dunkle, verträumte Werk arbeitet erfolgreich mit Versatzstücken aus elektronischen Musikgenres und Fragmenten, um das Konzept Song auf den Kopf zu stellen. Wer sich die Zeit nimmt, in die Innenwelt von Yorke einzutauchen, wird mit einem der musikalischen Highlights des Jahres belohnt.
Seit der Jahrtausendwende wird jede Plattenveröffentlichung von Radiohead von einem Rahmennarrativ begleitet. Für „Kid A“ tourte man sich mit einem montierbaren Zirkuszelt fast in den Ruin, bei dem Erscheinen von „In Rainbows“ zahlte der Hörer für seinen Download so viel, wie ihm lieb war – so konfrontierte man den Konsumenten im digitalen Zeitalter mit der Frage, was ihm entmaterialisierte Musik eigentlich wert ist.
Der Nachfolger „The King of Limbs“ wurde ohne lange Vorankündigung ins Netz gestellt, um zu zeigen, wie unzeitgemäß das große Werbetrommelrühren und Single-Auskoppeln der Plattenlabel im Zeitalter der Internetleaks ist.
Apropos Leaks: Vor gerade mal zwei Wochen wurde Radiohead erpresst. Jemand hatte Sänger Thom Yorkes Mini-Disc-Archiv aus der „OK Computer“-Zeit gestohlen und drohte, das gehackte Material ins Netz hochzuladen, falls die Band nicht bereit wäre, 150.000 Dollar Lösegeld zu zahlen. Statt sich zu fügen, haben die Musiker beschlossen, ihren Fans das Material zur Verfügung zu stellen. Die 18 Pfund, die man dafür zahlt, gehen an „Extinction Rebellion“, eine Organisation für Klimaschutz. Lakonisch meinte Gitarrist Jonny Greenwood, man möge so selbst herausfinden, ob die Band das Lösegeld hätte zahlen sollen.
Seit jeher also verzahnt sich bei Radiohead die Veröffentlichungspolitik der Alben mit einem Kommentar über Musikkonsum im Zeitalter der digitalen Reproduktion.
Zwei Wochen nach der unfreiwilligen Bereitstellung der „OK Computer“-Tapes ist Thom Yorkes neues Solo-Album „Anima“ bei allen Streamingdiensten verfügbar. Auch hier wurde das Album ohne große Vorankündigungszeit herausgebracht.
Und für Yorkes drittes – oder viertes, zählt man den Soundtrack zu Luca Guadagninos Horrorfilm-Remake „Suspiria“ mit – Soloalbum gibt es dann auch gleich zwei Rahmenevents: Einerseits hat Kultregisseur Paul Thomas Anderson einen Netflix-Begleitkurzfilm gedreht, in dem man Yorke und dessen Gefährtin sehen kann, andererseits gab es, sozusagen als Teaser, eine Reihe von Werbungen für die fiktionale Firma „Anima Technologies“, die eine „Dream Camera“ entwickelt haben soll, dank der man sich wieder an seine vergessenen Träume erinnern könnte.
All diese Nebenschauplätze des Hauptwerkes wollen allerdings nicht kaschieren, dass die Musik an sich nicht viel taugt; sie sind allesamt Schlüssel zur Musik selbst, sind Mittel, mit denen Yorkes neue Songs durch andere Medien ein Echo in der realen Welt finden.
So dreht sich auf „Anima“ vieles um das Erforschen von Traumwelten (auf dem letzten Radiohead-Album gab es bereits einen Song, der „Daydreaming“ hieß), andere semantische Eckpfeiler der Yorke’schen Lyrik wie Weltuntergangsszenarien, Internetparanoia oder technologische Dystopien werden in ein Album eingesponnen, das klingt wie die Playlist einer Underground-Elektro-Party für verzweifelte Menschen, die das Sonnenlicht scheuen.
Traumwelten
Beginnen tut „Anima“ mit „Traffic“ (sehr empfehlenswert für den Luxemburger, der im Stau steht), dessen Beat-Pattern entfernt an „Lotus Flower“ von Yorkes Hauptband Radiohead erinnert – der Track ist aber weitaus elektronischer ausgefallen und trägt wegen seiner House-Elemente die Spuren von Thom Yorkes Zusammenarbeit mit Modeselektor auf deren Platte „Monkeytown“.
Überhaupt: Der Einfluss all jener elektronischer Künstler, mit denen Yorke bereits zusammengearbeitet hat (Moderat, Flying Lotus) oder die an dem umfangreichen Remix-Projekt des „The King of Limbs“-Albums teilnahmen (Four Tet, Caribou), ist hier zwar unüberhörbar, jedoch scheint Yorke mit dieser homogenen Platte zeitgleich eine doch sehr eigenständige Auffassung elektronischer Avantgarde entwickelt zu haben.
Die Neigung zu elektronischen, oftmals minimalistischen Klangwelten zieht sich wie ein roter Faden durch das Album: Die vielfältigen Songs, die zwischen Balladen (der bisher unveröffentlichte Radiohead-Song „Dawn Chorus“) und Tanzbarkeit („Traffic“) pendeln, deklinieren die Abwendung von klassischer Rock-Instrumentierung gleich neunmal durch. Hier taucht mal ein typischer, funkiger Bass auf („Impossible Knots“), dort eine Blues-Gitarre („Runawayaway“), ansonsten gilt die Vorherrschaft von Beats und Synthies. Wobei Yorkes Stimme wahlweise abgehackt, multipliziert oder durchs Effektgerät gejagt wird, sprich mehr wie ein gleichwertiges Element eines minimalistischen Klanggewebes behandelt wird, als dass ihr die zentrale Rolle, die sie bei Radiohead dann doch stets übernahm, zugestellt würde.
In „The Axe“, einem Song über die Orientierungslosigkeit und Einsamkeit eines lyrischen Ichs inmitten von Maschinen, hört man die klagenden, traurigen Synthies, die auch schon „Where I End and You Begin“ zu so einem tollen Song machten, gegen Ende erinnert der Song dann an die elektronischen Post-Rock-Jams von Vessels.
„Last I Heard (… He Was Circling the Drain)“ trägt die Reminiszenzen von Yorkes Horrorfilmarbeit, die wabernden Synthies, die man vom „Suspiria“-Soundtrack kennt, rütteln an einem beängstigenden Klanggerüst während Yorkes Persona „von der Stadt verschluckt wird“.
Dass die Kohärenz der verschiedenen Songs sich erst nach wiederholtem Hören entfaltet, ist gewollt und teilweise dem Schreibprozess geschuldet – Yorke hat seinem Mitarbeiter und Produzenten Nigel Godrich Songfragmente zukommen lassen, die man zu Samples und Loops verarbeitete, diese fungierten anschließend als Basis für den weiteren Schreibprozess. So hört man auf „Twist“ einen entfremdeten Stimmenteppich, auf dem sich Yorkes delikater Gesang entfaltet, bis das Stück mitsamt diskretem Chor auf ein lichtdurchflutetes Finale hinsteuert.
War Yorkes Debut „The Eraser“ ein noch sehr songorientierter erster Schritt zur Emanzipation von seiner Hauptband, das folgende „Amok“ eine konsequente Weiterführung dieser Arbeit mit der vollständigen Band Atoms for Peace und „Tomorrow’s Modern Boxes“ der Versuch, sich autonomer an der Vielfalt zeitgenössischer Elektro-Musik abzuarbeiten, so ist „Anima“ nicht nur die konsequente Synthese und Weiterentwicklung all dieser Solo-Arbeiten, sondern gleichermaßen ein wagemutiges Labyrinth, in dem der Zuhörer einen Einblick in Yorkes Innenwelt bekommt und ein klangliches Ebenbild der Welt, in der wir leben (müssen). Dass die Platte in ihrer Mitte etwas zu gemächlich plätschert, ist im Gesamtfluss von „Anima“ schnell vergessen.
Mit dem Mann, der damals besang, wie es sich anfühle, ein „Creep“ zu sein, hat das hier weder textlich noch musikalisch viel zu tun. Und das ist auch gut so.
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