Anime / Kultklassiker: Neon Genesis Evangelion durch die Brille von Corona
Neon Genesis Evangelion (NGE) ist eine genreprägende Animeserie aus dem Jahr 1995. Es geht um Einsamkeit, die Unmöglichkeit von Nähe und um eine latente Gefahr, die niemand so recht versteht. Einige Parallelen zu der heutigen Situation kommen dabei in den Sinn.
Nach dem Tod seiner Mutter ist der junge Shinji Ikari bei einem Lehrer aufgewachsen. Als er 14 ist, bittet sein Vater Gendo ihn, zu ihm nach Tokio-3 zu ziehen. Gendo ist der Kommandant der Organisation NERV, die den Vereinten Nationen untersteht. Shinji soll zusammen mit anderen Jugendlichen an Bord riesiger Kampfroboter, EVAs genannt, gegen die Engel in die Schlacht ziehen. Bei den Engeln handelt es sich um Kreaturen unbekannter Herkunft, die die Menschheit angreifen.
Die Serie kam sowohl beim Publikum wie auch bei Kritikern gut an. Sie gehört zu den Animes aus Japan, die in den 90ern bereits einem breiten internationalen Publikum zugänglich waren. Im Gegensatz zu anderen international erfolgreichen Animes aus dieser Zeit wie Dragon Ball und Sailor Moon ist NGE düster und gibt sich eine Menge Raum für Atmosphäre. Die Serie behandelt Themen wie Einsamkeit, Pubertät, Selbstzweifel und gibt nicht vor, dass alle Probleme mit einem simplen Rezept wie „Freundschaft“, „Liebe“ oder einem eisernen Willen aus dem Weg geräumt werden können.
Statt die Handlung oder die Qualitäten dieses Werkes heraufzubeschwören, werden hier fünf Gründe genannt, warum es sich lohnt, diesen Klassiker mit dem Coronavirus im Hinterkopf erneut anzusehen.
Der Schauplatz ist eine Stadt im Krisenzustand
Tokyo-3 bildet den Schauplatz für den größten Teil der Handlung. Hier leben und arbeiten die Charaktere. Hier gehen sie zur Schule und hier pflegen sie ihre sozialen Kontakte. Die Serie nimmt sich oft Zeit, um die Straßen der Stadt zu zeigen. Sie sind meist leer. Grillen zirpen. Trotz bestem Wetter sieht man außer den Hauptcharakteren niemanden auf den Straßen. Andere Autos als die, in denen die Protagonisten sitzen, gibt es auf den Straßen kaum.
Zwar dürfen sich die Bürger frei bewegen und die Stadt verlassen, doch schon deren Design erinnert an die permanente latente Gefahr, in der sich die Bewohner befinden. Bei einem Angriff lassen sich die meisten Gebäude nach unten in eine darunter liegende Höhle versenken. Ein Lockdown im wahrsten Sinne des Wortes also. Die Gefahr wird in NGE eben nicht (hauptsächlich) durch Gewalt und Zerstörung dargestellt, sondern durch leere Straßen und verschlossene Gebäude.
Wissenschaftler geben den Ton an
Die wahre Aktivität der Stadt findet denn auch nicht an der Oberfläche statt, sondern in einer Höhle unter der Stadt, wo die Mitarbeiter von NERV, die meisten davon Wissenschaftler und Sicherheitskräfte, die sich permanent in weißen Kitteln durch die endlosen Gänge und Einrichtungen des NERV-Hauptquartiers bewegen, daran arbeiten, die Menschheit vor dem Ende zu bewahren.
Der nicht unbegründete Eindruck entsteht, dass nicht die Bürger und ihre Vertreter die Lage kontrollieren, sondern die Wissenschaftler und das Militär. Den Bürgern bleibt kaum eine andere Wahl, als ihr Schicksal in deren Hände zu legen. Gegen die Engel sind sie machtlos. Es ist die Zeit der Experten.
Die Menschen sind einsam
Vor allem aber vermittelt NGE ein Gefühl von Einsamkeit und Beklemmung, das viele Menschen in der augenblicklichen Situation auch verspüren. (Dass Einsamkeit ein Hauptmotiv von NGE ist, darauf hat bereits der YouTube-Kanal Wisecrack hingewiesen). Doch während die Menschen in der heutigen Situation durch äußere Umstände keine sozialen Kontakte haben dürfen, sind es bei Shinji (größtenteils) innere Gründe. Er ist mit seiner neuen Rolle überfordert.
Der Halbwaise sehnt sich nach der Anerkennung seines Vaters. Um ihn herum gibt es schon Personen. Shinji fällt es allerdings schwer, zu ihnen eine Beziehung aufzubauen. Da ist NERV-Mitarbeiterin Misato, die sich um Shinji kümmert. Da ist die mysteriöse EVA-Pilotin Rei, die kaum spricht und sich ganz ihrer Arbeit verschrieben hat. Da ist die vorlaute EVA-Pilotin Asuka, die (nicht immer unbegründet) eine sehr hohe Meinung von sich selber hat. Da ist aber auch der rätselhafte Kaworu, mit dem Shinji so etwas wie eine Freundschaft zulässt. In einer Szene (zu der es endlose Fantheorien gibt) befinden sich die beiden Jungen im Dampfbad und Shinji lässt zu, dass Kaworu eine Hand auf seine legt.
Eindeutig wird dieses Thema in der Folge 4, „Das Stachelschwein-Dilemma“. Das namensgebende Dilemma beschreibt die Notwendigkeit von Nähe und die Unmöglichkeit, anderen Personen nahe zu sein, ohne sich gegenseitig zu verletzen. Schopenhauer und Freud haben diesen Ausdruck bereits gebraucht. (Tatsächlich sind mehrere Folgen nach Ausdrücken aus der Psychoanalyse benannt.) Die Implikation ist, dass Shinji vor anderen wegläuft, um sich Schmerz zu ersparen.
Im Corona-Lockdown sind die Menschen auf unterschiedliche Weise mit dem Dilemma konfrontiert. Etwa dann, wenn der Lockdown dafür sorgt, dass man endlich seine Ruhe vor anderen hat und nach einer Weile feststellt, dass die Einsamkeit doch belastend ist. Oder weil man plötzlich mit Menschen, die man eigentlich gerne hat, eingesperrt ist und es zu Reibungen kommt, denen man nicht aus dem Weg gehen kann.
Die Gefahr ist schwer zu verstehen
Für die nicht eingeweihten Bürger sind die Engel eine unbekannte Bedrohung. Sie kennen die geheimen Pläne von Behörden und Wissenschaftlern nicht und wissen nicht, was hinter den Angriffen steckt. Tatsächlich ist NGE sogar für Zuschauer nicht ganz einfach zu verstehen. Die Serie ist prall gefüllt mit Namen und Symbolen die der jüdischen, christlichen und babylonischen Mythologie entlehnt sind (Seele, Adam, Lilith, Magi, Marduk, Sephiroth …).
Ähnliches begegnet uns in der Corona-Krise. Wir lernen ein neues Vokabular, das vor einigen Monaten noch nicht zu unserem Alltagsrepertoire gehörte: Reproduktionszahl, Intensivbetten, Antikörper-Test. Auch lernen wir neue Organisationen kennen, von denen wir vorher vielleicht schon gehört hatten, die bislang aber nie so weit im Vordergrund standen: Robert-Koch-Institut, WHO, Johns Hopkins University.
Selbst nachdem wir uns nun alle wochenlang mit diesen Themen beschäftigt haben, blicken die meisten immer noch nicht ganz durch. Kein Wunder: Forschende, medizinisches Personal und Pflegekräften machen nicht umsonst eine intensive und langwierige Ausbildung. Dass Wissenschaftler und Behörden sich zum Teil widersprechen oder nicht ganz transparent vorgehen, trägt nicht dazu bei, dass die Lage für Otto Normalverbraucher überschaubarer ist.
Es gibt keine perfekte Lösung
In Neon Genesis Evangelion ziehen Kinder in die Schlacht, um die Menschheit gegen unbekannte mysteriöse Kreaturen zu verteidigen. Die Hauptcharaktere schweben nicht nur permanent in Lebensgefahr, auch ihre psychische Gesundheit leidet enorm unter der Situation. Die Erwachsenen sind sich dessen bewusst, sehen aber keine Alternative. Die Charaktere sind mit Dilemmata konfrontiert, die sich nicht ansatzweise befriedigend lösen lassen.
Auch in der Corona-Krise gibt es keine zufriedenstellende Lösung. Auf dem Spiel stehen die körperliche Gesundheit von Menschen, die von einem Virus bedroht wird, die psychische Gesundheit, die unter gesellschaftlicher Distanzierung leidet, aber auch die Wirtschaft, die unter den Schutzmaßnahmen ächzt. Es scheint, als gäbe es keinen Ausweg, der keinen Schaden anrichtet.
Derzeit ist die Serie beim Streamingdienst Netflix verfügbar. Um Werbung für NGE zu machen, hat Netflix einen Trailer zusammengeschnitten, der fast ausschließlich aus Actionszenen besteht. Das tut der Serie definitiv unrecht. Denn obwohl es dort durchaus starke Actionszenen gibt, machen diese nur einen kleinen Teil aus. Einige der besten Szenen in NGE sind die, in denen sich die Charaktere minutenlang nicht bewegen, während nur die Hintergrundmusik oder die Geräuschkulisse weiterläuft.
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