Kino / Mit dem Bike ins Kloster: „The Bikeriders“ und „The New Boy“
Zwei völlig unterschiedliche Universen: Dreht sich in „The Bikeriders“ alles um die Bikerszene in Chicago, stehen in „The New Boy“ Spiritualität und christliche Missionsarbeit im Vordergrund. Die Filme im Überblick.
„The Bikeriders“: Die Kehrseite der Freiheit
Acht Jahre nach „Loving“ und „Midnight Special“ (2016) hat der US-amerikanische Regisseur Jeff Nichols einen neuen Film veröffentlicht: „The Bikeriders“ um eine Bikerszene unweit von Chicago beschwört wirkungsmächtig die gelebte Gegenkultur der 60er- und 70er-Jahre, die sich mit Motorrädern auf der offenen Straße ein neues Freiheitsgefühl abseits der sozialen Ordnung zu erkämpfen versuchte.
Die Biker-Kultur der 60er- und 70er-Jahre fand mit Dennis Hoppers „Easy Rider“ (1969) einen großen filmischen Höhepunkt, der auch Startschuss für die Erneuerungsbewegung des „New Hollywood“ im amerikanischen Kino war. Das Motiv der offenen Straße wurde zu dem Sinnbild eines neuen Freiheitsgefühls, das letztlich im Mündungsfeuer eines Gewehrs enden musste. Man möchte dazu verleitet sein, einen Film, der „The Bikeriders“ heißt, gleich dazu in Bezug zu setzen, doch das neue Werk von Jeff Nichols entzieht sich einem derartigen Direktverweis zunächst. In erster Linie basiert er auf dem gleichnamigen Fotobuch von Danny Lyon aus dem Jahr 1967, den der Fotograf und Dokumentarfilmer als Mitglied des „Chicago Outlaw Motorcycle Club“ zusammengetragen hat. Der Blick auf diese Männerwelt wird da ausgerechnet von einer Frau, Kathy (Jodie Comer), vermittelt: Sie ist es, die sich rückblickend an ihre aufflammende Liebe zu Benny (Austin Butler), dem zweiten Mann der Vandals – so nennt sich der Bikerclub nahe Chicago – erinnert. Sie spricht mit Lyon (Mike Faist), dessen Recherchen die Basis für den Fotoband sein sollen. Sie berichtet über ihren Eintritt in diese Welt aus Motoröl, Lederjacken, spärlich beleuchteten Pubs und immerzu eruptiv ausbrechender Gewalt.
Dabei erinnert die Exposition in ihrer Zusammenführung allerlei filmsprachlicher Mittel, wie dem Voice-over oder noch dem Freeze Frame an die Erzähltechniken von Martin Scorsese – da wie hier wird von Gesetzlosen erzählt, die bei Nichols aber keine wahren Gangster sind. Es wird aus der weiblichen Perspektive ein Gleiten in eine Welt beschrieben, die voller aufregender, auch schmerzhaft-bitterer Erfahrungen ist, eine Welt, in der „wahre“ Männer nicht weinen und übergriffiges Verhalten gegenüber Frauen auch nur Ausdruck dieser Hypermaskulinität ist.
Verzweifelte Gewaltakte
Mit Blick auf den titelgebenden Fotoband dürfte es kaum verwundern, dass der Film seinen wesentlichen Reiz aus den atmosphärisch dichten Bildern Lyons bezieht: Die Inszenierung zur Kamera hin, das auffällige Posieren, die Darstellung eines widerständigen Lebensstils wird da augenfällig bei Nichols mitgeführt. So auch sucht sich „The Bikeriders“ seine filmischen Vorbilder weniger in der Hippie-Kultur aus „Easy Rider“, sondern vielmehr bei James Dean – ein Bezug zu „Rebel Without a Cause“ (1955) wird da spürbar, deutlicher noch zu Marlon Brando, den Nichols über die Fernsehausstrahlung von „The Wild One“ (1953) direkt aufleben lässt. Brando ist ein Vorbild für Johnny (Tom Hady), den Anführer der ‚Vandals‘, der in Benny seinen Nachfolger sieht und sich zur väterlichen Schutzberufung aufgefordert fühlt. Es ist zudem in der Darstellung des Benny überaus auffällig, wie sehr das Leinwand-Image Austin Butlers zur Revision dieser popkulturellen Ikonen wird: Butler war Elvis bei Baz Luhrmann, für Nichols ist er eine Mischung aus Brando und Dean. Ebenso wie in „Rebel Without a Cause“ oder noch „On the Waterfront“ (1954) wird da immer wieder der Gruppenzusammenhalt eingefordert, doch ihr Ende ist allzu absehbar.
„The Bikeriders“ beschreibt eine Gegenkultur, die – so, als wisse sie um ihren eigenen Niedergang – noch einmal versuchen möchte, ihre ganze erratische Wut zu beschwören, bis in die unmittelbare Zerstörung des eigenen Körpers hinein. Mit Barhockern, Fäusten, Schaufel und Messer wird mit äußerst roher Gewalteinwirkung ein Machtkampf ausgetragen, der hinter diesem Mikrokosmos aus Leder und Motorrädern auf den Vietnamkrieg und den zunehmenden Drogenkonsum verweist und so auf ein umfassenderes Bild US-Amerikas der 60er- und 70er-Jahre schließen lässt. Das Auflehnen gegen die gutbürgerliche Sittsamkeit ist letztlich eine leere Geste, die Gewalt ist verzweifelt und Ausdruck einer tragischen Ziellosigkeit. So kann das persönliche Heil denn auch nur im Rückzug ins Private gefunden werden.
Läuft im Kinepolis Belval, Ciné Utopia und Kinepolis Kirchberg.
„The New Boy“: Spirituelles Assoziationsgeflecht
Der australische Regisseur Warwick Thornton, der besonders die eigene Landesgeschichte beschaut, kehrt mit seinem neuen Film „The New Boy“ in die Kinos zurück. Mit Cate Blanchett prominent besetzt, erzählt er darin von einem jungen Aborigine, der eine strenge christliche Klostergemeinschaft aufzurütteln vermag – ein Film, der sich zu einer ebenso atmosphärischen wie sperrigen Metapher für die Widersprüchlichkeiten der christlichen Kolonialgeschichte entwickelt.
Warwick Thornton ist ein Chronist des eigenen Landes, bereits in früheren Werken wie „Samson & Delilah“ (2009), „Sweet Country“ (2017) oder „Mystery Road“ (2018) hat er die Alltagswelt der australischen Ureinwohner zum bindenden Thema dieser Filme gemacht und so auch die Geschichte des Kontinents mitführt. Das ist in „The New Boy“ nicht anders: Australien in den 1940er-Jahren: Der Krieg hat die Welt fest im Griff, doch in einem entlegenen Kloster irgendwo inmitten von prächtigen Weizenfeldern scheint er weit entfernt. Die sittsame Ordnung dieser Klostergemeinschaft, in der die strenge Nonne Aileen (Cate Blanchett) eine Gruppe verwaister Kinder aufzieht, wird jäh gestört, als ein Junge der Aborigines ihr vor die Tür gebracht wird. Dieser neue Junge (Aswan Reid) nämlich scheint mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet, die die glaubensfeste Nonne in ihren Überzeugungen auf die Probe stellen werden.
Christliche Missionsarbeit
Das Christentum, der weiße Überlegenheitsgedanke sowie die Kolonialisierung sind so etwas wie die thematischen Eckpfeiler, über die „The New Boy“ ein diffuses Netz aus atmosphärisch dichten Naturaufnahmen, biblisch-mythischen Zitaten und übernatürlichen Elementen ausbreitet. Es ist ein Eintauchen in ein authentisches Stimmungsgebilde, das Thronton aufmacht, und so verhalten sich die spirituell-mystisch aufgeladenen Bilder immer mehr wie ein Puzzle zueinander: Je mehr er seine Geschichte weitererzählt, desto weniger erschließt sich einem die Aussage. Der Erkenntnisgewinn steht in keinerlei Relation zum Fortschritt der Handlung – es ist diese Unterdrückung, die Warwick anstrebt, „The New Boy“ ist enigmatisch angelegt, er verschließt sich in seiner Handlung immer mehr, anstatt auf die narrativ transparente Auflösung zu setzen.
Der neue Junge – allein der Filmtitel entzieht seinem Protagonisten die Individualität – soll in dem christlichen Glauben unterwiesen werden, dabei erlernt er indes nur, wie die Stigmatisierung, die ihn umgibt, zu reproduzieren ist: Bei seiner Ankunft wird er aufgrund seines Verhaltens – er isst seinen Brei mit den Fingern und klettert auf Bäume – als befremdlich und animalisch gekennzeichnet; er wird als ein Unmündiger wahrgenommen, den es in der Folge zu füttern gilt. Als eine Lieferung der Messias-Statue am Kreuz eintrifft, zu der der Junge eine ganz besondere Bindung entwickelt, meint er, ihn ebenso empfangen und füttern zu müssen. Es ist aber gerade das Widerspenstige dieses Außenseiters, das hier positiv aufgeladen wird. In diese harsche Alltagsrealität der Nonne, die sich maßgeblich aus Christianisierung, Ernteeinfuhr und administrativer Leitung des Klosters zusammensetzt, bricht sich zunehmend das Wundersame Bahn – sogar den Schlangenbiss vermag der Junge zu heilen. Unter diesem Aspekt erinnert der Film zum einen an die Stilrichtung des Magischen Realismus, zum anderen birgt er die Gefahr, in der dramaturgischen Zuspitzung aus indigener Minderheitsperspektive und der Unterdrückung und Entmündigung durch das Christentum einer klischierten Darstellungsweise Vorschub zu leisten.
Da, wo die ethnische Minderheit als ein mysteriöses Außenseiterdasein inszeniert wird, das mit übernatürlichen Kräften ausgestattet ist, und das Umdenken des weißen Helden bewirkt, ist ein filmisch tradiertes Muster bedient, das man so besonders aus Frank Darabonts „The Green Mile“ (1999) kennt, basierend auf der gleichnamigen Romanreihe von Stephen King. An der Bekräftigung von derartigen festen Bildern ist „The New Boy“ aber nicht interessiert, vielmehr versucht der Film, die Widersprüchlichkeiten der religiösen Konvertierung, die die christliche Missionsarbeit in allerlei Kolonien auf der ganzen Welt betrieb, in einem diffusen Assoziationsgeflecht anzuführen – damit ist indes nicht ausgeschlossen, dass sich entsprechende klischierte Denkformen sozusagen durch die Hintertür wieder einschleichen.
Läuft im Kinepolis Belval und Ciné Utopia.
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