Musik / „Never Look Back“: Eine Retrospektive zu 20 Jahren „Amnesiac“ von Radiohead
Nur acht Monate nach dem zukunftsweisenden Paradigmenwechsel „Kid A“ veröffentlichte die englische Kultband ein weiteres Meisterwerk. Verschiedene Musikkritiker bezeichnen „Amnesiac“ als B-Seiten-Sammlung seines Vorgängers. Wieso dies grundlegend falsch ist, erläutern wir hier.
Viele waren sich einig: Hätte Radiohead „Kid A“ und „Amnesiac“ gleichzeitig veröffentlicht, wäre dies vielleicht das beste Doppelalbum aller Zeiten gewesen. Das mag stimmen – aber vielleicht wären einige der Tracks von „Amnesiac“ in der schieren Masse an toller Musik untergegangen. Da, wo „Kid A“ nämlich ein Album wie aus einem Guss war, das seinen recht gruseligen Spannungsbogen vom harmonischen Opener bis zu seinem Ende konsequent durchzieht, ist „Amnesiac“ eine weitaus zerfahrenere, dafür aber auch Song-orientiertere Platte. Ich wage mal folgende These, die so mancher Radiohead-Jünger mit Verachtung strafen dürfte: „Amnesiac“ hat zwar mehr verzichtbare, dafür aber auch stärkere, abwechslungsreichere Tracks als sein Vorgänger.
Laut Sänger Thom Yorke wollte man „Amnesiac“ eben nicht zusammen mit „Kid A“ veröffentlichen, weil die beiden Werke für sich stehen sollten – und das, obwohl alle Tracks von „Amnesiac“ während der Aufnahmen zu „Kid A“ entstanden sind und beide Platten auf die gleichen Einflüsse, die gleiche radikale Neuerfindung zurückzuführen sind. Auch auf „Amnesiac“ trifft Radioheads progressiver Indie-Rock auf Avantgarde-Elektronik und Jazz-Klänge. Nur sind diese Hommagen hier vielleicht besser auf die einzelnen Tracks aufgeteilt, anstatt dass sie, wie das teilweise auf „Kid A“ der Fall war, miteinander verschmelzen: Opener „Packt Like Sardines in a Crushed Tin Box“ ist elektronischer Avantgarde-Pop, der seine Eingängigkeit und Subtilität hinter monotoner, miesepetriger Elektronik versteckt, Closer „Life in a Glasshouse“ ist jazziger als alles, was Radiohead bis zu dem Zeitpunkt veröffentlicht hatte.
Wie ein Hiernonymus-Bosch-Gemälde
Dabei macht es einem „Amnesiac“ zu Beginn nicht leicht: Im Gegensatz zum Opener von „Kid A“ – das betörende „Everything In Its Right Place“ – ist das bereits erwähnte „Packt Like Sardines in a Crushed Tin Box“ mit seinen monotonen, surrenden Synthies, den elektronischen Störgeräuschen, Thom Yorkes abstrakten Lyrics („After years of waiting/Nothing came“) und seiner Perkussion, die klingt, als würde sich jemand in einer Badewanne auf Töpfen und Pfannen auslassen, alles andere als ein Auftakt, der sofort mitreißt. Aber für jeden sperrigen, kalten, abstrakten Track (wovon es eigentlich nur drei gibt, die Band hat aber wohl absichtlich, weil Verweigerung und Provokation immer schon Teil von Radiohead waren, zwei davon ganz nach vorne gestellt) bietet diese Platte zwei „Pyramid Song(s)“ – in diesem ergreifenden, von Charlie Mingus’ „Freedom“ inspirierten Track, singt Thom Yorke zu schlurfender Jazz-Rhythmik und betörenden Klavierakkorden über eine Nahtoderfahrung. Oder über Quantenphysik. Möglicherweise aber auch über beides.
Überhaupt: Auch wenn die Texte meistens abstrakt bleiben und so die vielfältigsten Interpretationsräume öffnen, wird hier schnell deutlich, dass Yorke seine eigenen existentiellen Ängste zu einer lyrischen Welt verdichtet, die mit ihren dunklen Bildern streckenweise an ein Hieronymus-Gemälde zu erinnern vermag: „Cut the kids in half“ singt er auf „Morning Bell“, während zynische Zeilen wie „If you’d been a dog/They would have drowned you at birth“ an den Lakonismus des Rumänen Emil Cioran herankommen.
Über die Entstehungsgeschichte von „Amnesiac“ muss hier nicht viel erzählt werden: Es ist die gleiche wie die von „Kid A“. Nach dem Riesenerfolg von „Ok Computer“ sah die Band nicht ein, wieso man diese Erfolgswelle weiter reiten sollte. Kommerziell wäre dies durchaus möglich gewesen – aber dafür wären Thom Yorke und seine Genossen in einer künstlerischen Sackgasse gelandet. Im Studio war die Stimmung jedoch alles andere als harmonisch: Während Thom Yorke und Johnny Greenwood das (elektronische) Rad neu erfanden, drehten die restlichen Musiker manchmal Däumchen – und fanden die Situation mitunter frustrierend.
Organisch-elektronisch
Nach und nach muss das neue Klanggewand, das die beiden Masterminds zusammengeschneidert hatten, Zweitgitarrist Ed O Brien, Schlagzeuger Phil Selway und Bassist Colin Greenwood doch gefallen haben – die besten Songs auf „Amnesiac“ klingen nämlich in der Tat organischer als so manche Auszüge aus „Kid A“. Da wären die beiden Herzstücke: „Knives Out“, das Regisseur Rian Johnson zu einem postmodernen Metakrimi inspirierte und das mit seinen Arpeggios an spätere Tracks von „In Rainbows“ verweist, und das leicht bluesige „I Might Be Wrong“ – mit seinem eingängigen Riff und treibenden Rhythmus ist dies einer der besten Radiohead-Songs überhaupt.
Auch „Dollars & Cents“ klingt wie ein mäandernder, aber eingängiger Rocksong, der mit perlenden Gitarren und peitschendem Rhythmus daherkommt – nur steht die Synthie-Melodie hier eben mehr im Vordergrund, als dies in vergangenen Tagen der Fall war. Und der Minimalismus von „You and Whose Army“ wird ganz allmählich von einem kathartischen Finale in voller Bandmontur abgelöst. Für das finale „Life in a Glasshouse“ konnte mit Humphrey Lytteltons Band gleich eine Gastband gewonnen werden – die grandiosen Bläser, die Yorkes lebensmüde Lyrics über das Promidasein umgeben, zeigen, wie goldrichtig diese Wahl war.
Dunkler und elektronischer gestalten sich Tracks wie „Pulk/Pull Revolving Doors“ bei dem die Band dann auch auf technische Verzerrungseffekte setzt: Die letzten Sekunden vom organischen „Pyramid Song“ und vom sperrig-elektronischen „Pulk/Pull Revolving Doors“ sind identisch, und für „Like Spinning Plates“ lässt man den Song „I Will“, der eine Platte später in seiner gewöhnlichen Form auf „Hail to the Thief“ zu hören sein wird, von hinten nach vorne laufen – Yorke singt dabei sogar, als sei er direkt der Black Lodge aus „Twin Peaks“ entlaufen.
B-Seiten wie A+-Seiten
Dass „Amnesiac“ Song-orientierter als sein älteres Schwesteralbum ist, hat wohl auch die Band gemerkt: Nachdem Radiohead für „Kid A“ auf Single-Auskopplungen verzichtete, kommt „Amnesiac“ mit zwei Singles („Pyramid Song“ und „Knives Out“) daher. All diejenigen, die (teilweise zu Recht) darauf verweisen, dass Tracks wie das zu stark an Aphex Twin angelehnte „Pulk/Pull Revolving Doors“ oder das irgendwie verzichtbare, instrumentale „Hunting Bears“ nicht unbedingt auf der finalen Tracklist hätten landen müssen, sei ans Herz gelegt, sich die B-Seiten anzuhören.
Wie bereits zu Zeiten von „The Bends“ oder „Ok Computer“ tummeln sich dort einige der stärksten Tracks des Radiohead-Katalogs. Ein paar davon hätten definitiv auf „Amnesiac“ ihren Platz gehabt: „The Amazing Sounds of Orgy“ ist sowohl von der Instrumentierung, dem Aufbau, dem Melodiegefühl und der Rhythmik her phänomenal und kündigt bereits Songs wie „There There“ an, „Fog“ (das es auch als minimalistische, prächtige „Thom-alleine-am-Klavier“-Version gibt) ist die schummerige Düsterballade, die man ruhig an die Stelle von „Hunting Bears“ hätte setzen können. Auch das tribale, chorische „Kinetic“ ist grandios – für solche B-Seiten würden andere Bands mindestens ihre Seele verkaufen. Andere Songs wie das treibende, rockige „Trans-Atlantic Drawl“ hätten trotz des atmosphärischen Vocoder-Finales, das an Mogwai erinnert, nicht so richtig zur Stimmung der Platte gepasst – und das lebensbejahende „Cuttooth“ wäre auf dem düsteren „Amnesiac“ definitiv fehl am Platz gewesen. Noch weitere wie „Fast-Track“, das auf exzentrische Art den Jazz-Rock von „The National Anthem“ weiterspinnt, oder „Worrywort“ mit seinen Arkade-artigen Synthies sind einfach nur gute, wenn auch nicht unumgängliche B-Seiten.
Klar: Die besten Tracks von „Kid A“ und „Amnesiac“ hätten zusammen ein beeindruckendes, wenn auch weniger kohärentes Meisterwerk ergeben und „Amnesiac“ hätte definitiv einige seiner Tracks gegen einige der phänomenalen B-Seiten auf der Ersatzbank austauschen können. Aber es braucht den Mut einer Band wie Radiohead, eine solche Platte, die ein zeitloses Meisterwerk hätte werden können, stellenweise durch radikale Avantgarde zu sabotieren. Das macht diese Band nur noch menschlicher – und ergreifender.
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