/ Noch mehr wahre Begebenheiten im Wettbewerb der Berlinale-Filmfestspiele
„La paranza dei bambini“ und „Elisa y Marcela“ sind erneut Filme, die auf wahren Begebenheiten beruhen. Während der italienische Film die Selbstermächtigung von Kinderbanden im mafiabesetzten Neapel darstellt, inszeniert Isabel Coixet ein Liebesdrama zwischen zwei Frauen im konservativen Spanien des frühen 20. Jahrhunderts. Beide Filme entwickeln keinen wirklichen Mehrwert aus den wahren Geschichten, die sie auf die Leinwand bringen.
Weil er sieht, wie seine Mutter ihr hart verdientes Geld an die Mafia zahlen muss, entscheidet sich Nicola zusammen mit seiner Kinderbande, die man zu Beginn des Films beim Randalieren sieht, für die Mafia zu arbeiten und sich in dem Milieu hochzuarbeiten. Damit gelingt es ihm und seiner Clique auch, in die Clubs reinzukommen, wo die hübschen Mädchen tanzen und an Mode-Shows und Schönheitswettbewerben teilnehmen.
Seine Sympathie für eine Mafia-Familie, unter deren Ägide niemand Schutzgeld zahlen musste und die in Ungnade gefallen ist, verrät Nicola deswegen, weil diese ihm keine Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Als der momentan dominierende Klan aber in die Hände der Polizei fällt, reißt er die Macht an sich und kontrolliert fortan das Viertel, versucht aber, dies auf eine fairere Art als seine Vorgänger zu tun.
Alternativloses soziales Milieu
Man weiß nicht recht, was schockierender ist: Dass man hier koksenden 16-Jährigen zusieht, die das Drogen- und Waffengeschäft erschreckend schnell beherrschen – oder dass man dies eigentlich gar nicht so verstörend findet, da der Film formal zu glatt verläuft und die Milieudarstellung zu sehr in einem erzählerischen Spannungsbogen aufgelöst wird. Nichtsdestotrotz zeigt die porträtierte Filmwelt recht gut, wie alternativlos das soziale Milieu dieser skrupellosen Bande ist und wie durch soziale Mimesis (und das Erlernen von kriminellen Skills via YouTube) der Fortbestand eines Systems gewährleistet wird.
Rebellion im Paratext
Dass die Kamera an Nicola klebt, ist eine überzeugende Wahl, da wir hierdurch den Zusatz an Empathie bekommen, der es uns erlaubt, die Beweggründe der Figuren zu verstehen und zu sehen, wie soziale Hoffnungslosigkeit zu zyklischer Reproduktion ewig gleicher Gewaltstrukturen führt. Am Ende bleibt die Adaptierung von Roberto Savianos „Der Clan der Kinder“ aber etwas zu flach.
Brisantes Thema in zu glatter Erzählung
Die Buhrufe vor der Projektion von „Elisa y Marcela“ gehörten zu einem der wenigen Momente, in denen die Kritiker aus der Lethargie, in der das Mittelmaß der Wettbewerbsfilme sie versetzt hat, gerissen wurden: Als das Netflix-Logo auf der Leinwand angezeigt wurde, ertönte erst etwas klangliche Unzufriedenheit, dann etwas Gelächter über diese aufmüpfige Reaktion – die Rebellion wirkte aber eher wie die formale Wiederholung einer Aufregung, die bereits am Abflauen ist. Die folgende Netflix-Produktion war aber eher harmlos, da das an sich brisante Thema – im frühen 20. Jahrhundert gelang es zwei spanischen Frauen, zu heiraten, weil eine der Partnerinnen vorgab, ein Mann zu sein – in eine sehr glatte, manchmal sogar äußerst kitschige Erzählung eingepackt wird.
Der Film erzählt die Etappen einer an sich berührenden Liebesgeschichte – die Begegnung zwischen der schüchternen Marcela und der frechen Elisa, die repressiven Eltern, die Trennung der beiden, das Wiederfinden und Zusammenleben, der Skandal, der dieses Zusammenleben auslöst, die Hochzeit, die Wut der Mitbürger, der Frust der Männer, die merken, dass ihr provinzielles Angraben bei diesen schönen Frauen wirkungslos bleibt, die Flucht nach Portugal und die Inhaftierung –, verfällt dabei schnell einer narrativen Routine und einer schwarz-weißen Postkartenästhetik.
Durch Tricks wie die Anhäufung des „Iris Shots“ (der Schirm wird progressiv schwarz, es bleibt ein kleiner Kreis, der sich vor dem Szenewechsel beispielsweise auf das Gesicht einer der Figuren konzentriert) versucht Coixet, den Film technisch aufzulockern, es bleibt aber nur ein ästhetisch nicht begründeter Kontrast zwischen der schleppenden Erzählung und der aufgesetzten Leichtigkeit der Technik. Die Sexszenen zwischen den beiden Frauen sind konventionell und kitschig, wollen irgendwie brisant wirken (ein Oktopus wird involviert), scheitern aber auch hier an der technischen Artigkeit eines Films, dessen formale Schablone so gar nicht zum Thema passen will.
Lesen Sie dazu auch den Kommentar von Jeff Schinker.
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