Alain spannt den Bogen / Osterfestspiele Baden-Baden: Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko
Das Ereignis der Osterfestspiele Baden-Baden ist ohne Zweifel die einwöchige Residenz der Berliner Philharmoniker mit Konzerten, Opernaufführungen und Kammermusik. Mit besonders hohen Erwartungen fieberte man in diesem Jahr der Neuinszenierung von Richard Strauss’ „Elektra“ durch Philipp Stölzl in Zusammenarbeit mit Philipp M. Krenn entgegen.
Nach der Premiere waren die Kritiken, was Stölzl Inszenierungsarbeit angeht, ziemlich negativ. Die meisten Rezensenten stießen sich an der permanenten Projektion des gesungenen Librettos, was natürlich von der Handlung ablenken konnte. Hat man sich aber daran gewohnt, dann ist das doch ein interessantes Stilmittel, um die Wichtigkeit der Worte und vor allem ihrer Bedeutung in einen besonderen Kontext zu setzen. Oft wird so viel gleichzeitig gesungen, dass der Text mal oben, mal unten, mal recht, mal links, mal groß, mal klein oder gar überblendet zu einem einzigen Wirrwarr wird, so wie die Emotionen der Figuren. Zudem wird der projizierte Text oft so eingesetzt wie bei einem Stummfilm und auch die Szenerie und die Kostüme erinnern mehr als einmal an die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts, wobei Orest wie ein verstümmelter Soldat des Ersten Weltkriegs aussieht.
„Elektra“ als spannender Rachethriller
Das einheitliche Szenenbild ist in seiner Schlichtheit genial. Eine monumentale Treppe – deren Stufen sich permanent verschieben und sie so zu einer riesigen, grauen Mauer, zu einem Kerker, zu oben und unten werden lassen – bestimmt das Geschehen. Das ist von Stölzl sehr eindrucksvoll gemacht und verlangt den Sängern, vor allem den drei Hauptprotagonistinnen, die oft in kriechender, schlurfender oder gebückter Haltung singen müssen, einiges ab.
Einzig die Ermordung Ägisths wird zu einem Akt der Peinlichkeit und steht dem grenzenlosen Hass und den Rachegefühlen von Elektra und ihrem Bruder Orest dramaturgisch diametral gegenüber. Das ist schlechtes Bauerntheater und nimmt dieser doch sonst stringent erzählten Geschichte hier einiges an Intensität. Sicher, Stölzl erfindet die Geschichte nicht neu und die Personenregie ist recht klassisch. Das stört aber nicht, im Gegenteil. Der Regisseur erzählt Elektra als einen spannenden Rachethriller, bei dem es am Ende nur Verlierer und Tote gibt. So liest man am Schluss in blutroten Buchstaben: „Diese Zeit, sie dehnt sich vor uns, wie ein finsterer Schlund.“ Eine Elektra, die einem sich nicht sofort erschließt und deren Wirkung man mit nach Hause nimmt. Genauso wie verschiedene projizierte Worte, die sich tief in das Unterbewusstsein eingebrannt haben.
Klangrausch und Stimmenfest
Nichts zu diskutieren oder gar zu bemängeln gab es bei der musikalischen Qualität. Was Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker im Orchestergraben veranstalten, ist schier sensationell. Der Klang ist enorm wuchtig, akzentreich und hochexpressiv. Quasi atemlos stürmt die Musik, hysterisch aufgepeitscht, nach vorne. Nur manchmal erklingen zarte, beseelte Momente und diese haben dann eine doppelte Wirkung. Selbst die fragwürdige Akustik des Baden-Badener Festspielhauses steht der Musik diesmal nicht im Weg und man kann Petrenko nur danken, dass er diesen orchestralen Orgasmen immer wieder eine schwebende, klare und transparente Durchsichtigkeit gegenüberstellt.
Dabei vergisst er nie, die Sänger optimal zu unterstützen und zu tragen, ohne sie jemals zuzudecken. Das ist ganz großes dirigentisches Können und ein Orchesterspiel wie von einem anderen Planeten. Den Sängern macht es hörbar Vergnügen, an ihre Grenzen zu gegen. Michaela Schuster ist dabei eine gequälte und in sich gefangene Klytämnestra, glaubhaft in ihrer Zerrissenheit und stimmlich einwandfrei.
Einen großen Eindruck hinterlässt auch Elza van den Heever als Chrysothemis. Ihre prächtige und ausdrucksstarke Stimme zeichnet eine „erwachsene und gereifte“ Schwester, die in jedem Moment die Tragik der Situation erkennt und einmal nicht als sensibles Dummerchen dargestellt wird. Bis an ihre Grenzen geht auch Nina Stemme in der Titelrolle. Sie ist es würdig, in einem Atemzug mit ihren großen Vorgängerinnen Christl Goltz, Inge Borkh, Birgit Nilsson oder Gwyneth Jones genannt zu werden. Stemme singt nicht, Stemme spielt nicht, Stemme ist Elektra. Und welche Elektra!
Neben diesen drei hochkarätigen und stimmpotenten Sängerinnen haben es die beiden männlichen Rollen nicht leicht. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke singt die Rolle des Ägisth ohne Hysterie, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen. Leider wird seine Ermordung von Stölzl schlecht in Szene gesetzt, sodass sein kurzer Auftritt irgendwie wirkungslos verpufft. Johan Reuter singt einen sonoren Orest und ist um psychologische Charakterisierung der Figur bemüht. Das Zusammenspiel mit Nina Stemme funktioniert zudem hervorragend. Am Schluss gab es massive Buh-Rufe für eine Inszenierung, die weitaus mehr Stärken als Schwächen hat, und donnernden Applaus für alle Mitwirkenden, besonders für Nina Stemme, Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker.
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