Musical „Emilia Pérez“ / Queere mexikanische Hymne im Kampf um Gerechtigkeit
In seiner Musical-Crime-Komödie „Emilia Pérez“ vermischt Jacques Audiard mutig Filmgenres und Geschlechtergrenzen zu einem explosiven Mix.
Frau kennt Frida Kahlo, man(n) kennt Drogenkartelle und Fajitas. Doch Mexiko kennen viele nur von bunten Urlaubsbildern oder aus seichten Telenovelas. Mit seinem zehnten Spielfilm hat sich Jacques Audiard viel vorgenommen – und der Plot klingt nach einer Mischung aus besagten Telenovelas und Trash: Die argentinische Trans*-Schauspielerin Karla Sofía Gascón spielt Juan „Manitas“ Del Monte, einen mächtigen Kartellführer in Mexiko, der mit Jessi (Selena Gomez) verheiratet ist und zwei kleine Kinder hat. Manitas ist von einem hochkarätigen Mordprozess fasziniert, in dem ein schuldiger Angeklagter dank seiner klugen Anwältin Rita Moro Castro (Zoe Saldaña) freikommt.
Diese fristet als eine von vielen in der unteren mexikanischen Mittelschicht ein prekäres Dasein. Als Anwältin verteidigt sie die schäbigsten Verbrecher in schmutzigen Gerichtsprozessen. Die Überqualifizierte lässt sich willig ausbeuten und ist doch unglücklich darüber, dass sie ihr Leben der Verteidigung reicher Halunken widmet, die immer reicher werden, während sie sich für ihr Auskommen draufmacht.
Doch mit einem Mal bietet sich die Möglichkeit, das Blatt zu wenden. An einem Kiosk wird sie gekidnappt und mit verbundenen Augen zu einem Ort gefahren; dort macht ihr kein Geringerer als der Drogenkartellboss „Manitas“ (Karla Sofía Gascón) ein Angebot, das sie nicht ablehnen kann: ein einmaliger Job für eine unvorstellbar hohe Summe, mit der sie sich zur Ruhe setzen könnte. Der größte Wunsch des Drogenbosses ist es, als Frau zu leben. Rita soll ihm zu einer Geschlechtsumwandlung verhelfen, um dann zu verschwinden.
Gelungenes Experiment?
Diese Handlung in ein Musical zu verpacken, ist ein gewagtes Experiment, das erstaunlicherweise funktioniert und bei den 77. Filmfestspielen in Cannes tosenden Applaus erntete. Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez und Adriana Paz wurden als beste Darsteller:innen geehrt, während Audiard für seine Musical-Crime-Komödie den großen Preis der Jury erhielt.
Diese Wirkung verdankt „Emilia Pérez“ zweifellos dem intensiven Spiel seiner Hauptdarsteller:innen. Zugleich ist Audiard ein faszinierender Mix aus verschiedenen Filmgenres gelungen. Denn filmisch tanzt dieser Film ähnlich aus der Reihe wie „Titane“ (2021) von Julia Ducournau.
Die Struktur gehorcht einer klassischen mexikanischen Telenovela, nur dass Manitas nicht das arme Mädchen aus den Favelas ist, das es durch Heirat in die Oberschicht mit ihrem Märchenprinzen zu Reichtum und Ruhm bringt … Die Drehbuchfassung gehorcht den Grundzügen einer Oper, einem Libretto in vier Akten. Die Verschmelzung unterschiedlichster Filmgenres wirkt wie durch einen Mixer gedreht. Mitunter greift der französische Regisseur auch auf Elemente der Science-Fiction-Welt zurück, etwa, wenn Rita durch die Welt jettet und in das kommerzielle Universum der plastischen Chirurgie und Kliniken eintaucht, in denen Geschlechtsumwandlungen vorgenommen werden. Hier filmt Audiard von oben auf die heilsversprechenden blinkenden Kliniken, in denen in aseptischem Weiß zahllose Patient:innen liegen und auf ihre Eingriffe warten.
Geschlechtsanpassung und plastische Chirurgie
Jedoch streift Regisseur Audiard das Business mit Geschlechtsumwandlungen und plastischer Chirurgie nur oberflächlich. Die realen Hürden, denen sich Trans*-Menschen etwa bei Hormonbehandlungen ausgesetzt sehen, thematisiert der Film nicht.
Wenn mit Dr. Wasserman ein israelischer Arzt (Mark Ivanir) als Heilsbringer erscheint, der von rechts nach links Hebräisch in sein Notizbuch schreibt und Manitas singend vor den Folgen warnt („Ich kann dein Geschlecht ändern, aber es ist das Denken in den Köpfen der Leute und die Gesellschaft, die sich ändern müssen …“), vervollständigt dies nur das Storytelling des gesungenen Märchens.
Irgendwann erwacht „Manitas“ zwar mit schmerzverzerrtem Gesicht in einer Klinik in Tel Aviv, ist dann jedoch schnell happy in ihrer neuen Haut und Identität als Frau, Emilia Pérez. Dabei wirken die Szenen, in denen Pérez in ihrer neuen Rolle auf Figuren aus ihrer Vergangenheit trifft, bisweilen bizarr. Es erinnert an die Filmsprache eines Paul Verhoevens, wenn Emilia mit ihren Kindern kuschelt und diese meinen, sie rieche wie ihr Papa, oder wenn sie vor Wut und Eifersucht tobend mit ihrer Ex-Frau Jessi (Selena Gomez) brüllt und sich ihre Stimme dabei überschlägt und eine verzerrte männliche Stimme aus ihr herausbricht wie aus einem Monster.
Starke Leinwandpräsenz
Dennoch schlägt der Film in keinem Augenblick um ins Groteske. Denn die drei Hauptdarsteller:innen glänzen in ihren Rollen, vor allem Karla Sofía Gascón besticht in der Hauptrolle der Emilia Pérez durch ihre starke Leinwandpräsenz. Aber auch Gomez in der Rolle der Jessi, als oberflächliche Latino-Girly-Gattin des Drogenbarons, die sich vollgekokst nur amüsieren will, überzeugt auf voller Linie, vor allem, wenn sie tanzt.
Im letzten Drittel nimmt der Film unerwartet an Fahrt auf, dann nämlich, als ausgerechnet Emilia Pérez eine sinnstiftende Tätigkeit in der Suche und dem Einsatz für „Desaparecidos“ (Verschwundenen) findet und in dieser Rolle aufgeht.* Audiard trägt auch hier sehr dick auf: Eine gemeinnützige Stiftung muss her und der einst skrupellose Drogenboss wandelt sich in seiner neuen Identität als Frau gleich noch zum „guten Menschen“, dem am karitativen Einsatz für die Entrechteten liegt.
Wussten Sie schon …
*… dass die Anzahl der vermissten – und vermutlich gewaltsam getöteten – Personen in Mexiko sich Ende Mai 2024 insgesamt auf über 110.000 Menschen belief? Quelle: de.statista.com
In einer eindrucksvollen Einstellung erscheinen die Köpfe zahlreicher Vermisster wie in einer Matrix. Wenn sich das Duo (Emilia Pérez und ihre Anwältin Rita) ganz und gar dem Kampf um die Familien der „Desaparecidos“ widmen, hat dies kurz etwas von „Wunscherfüllungskino“. So gelingt Audiard allein der Spagat, indem er den Bogen gnadenlos überspannt.
Vor allem die Trans*-Schauspielerin Karla Sofía Gascón in der Hauptrolle der Emilia Pérez spielt herrlich affektiert. Sehr stark auch die Szene einer Galaveranstaltung, auf der Emilia Pérez und Rita tanzen und den anwesenden Politiker:innen – potenziellen Gönnern – ins Gesicht singen, dass sich die gesellschaftlichen Probleme in Mexiko auch aufgrund ihrer Korruption nicht so leicht lösen lassen.
Von fließenden Übergängen
„Emilia Pérez“ ist damit ein ironisches Spiel mit Verfremdungen und Brüchen: Die verschiedenen Filmgenres sind so fließend und gehen in diesem Film ineinander über, wie die Geschlechtergrenzen gesprengt werden.
Wer sich auf die Musical-Einlagen einlässt und überdies Fan von Telenovelas ist, kann den Film als queere Hymne genießen. Doch auf manche Trans*-Menschen könnte die Leichtigkeit dieses Musicals auch provozierend wirken.
Für ein linkes Publikum macht dieser Film es jedoch möglich, dass sich – vor allem im letzten Drittel – ein Gefühl der Erhabenheit einstellt, das aus Frauen-Solidarität und dem Kampf für Gerechtigkeit im Kampf gegen die Narcos resultiert. Dieser erweist sich in Audiards Musical-Drama zugleich recht vereinfacht als Kampf der guten Frauen gegen die machistisch-gewalttätige Männer(-Welt).
„Emilia Pérez“ von Jacques Audiard, mit Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, 2:10 Stunden; 2024. Unter anderem im Utopia.
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