Theater / Risikoberuf Künstler: In sechs Stationen durch die Welt der Seuchen
In einer nächtlichen Führung durch den kleinsten Ort Luxemburgs kreuzen sich ein Quacksalber, der Corona-Heilpillen verkauft, ein verschmähter Neubrasilianer, ein Gelegenheitstotengräber, eine Lehrerin und eine Gänsemagd: Die neue Produktion der interdisziplinären Künstlertruppe „kopla bunz“ setzt sich in Schauspiel, Tanz und Gesang mit dem Thema Seuchen auseinander, schlägt die Brücke zur heutigen Situation und zeigt im historischen Vergleich, wie sehr wir Seuchen und Krankheit aus unserer Wohlstandsgesellschaft verstoßen haben. Wir haben uns mit den Projektleitern unterhalten.
„Ich hätte nie gedacht, dass Singen mal zum Risikoberuf wird.“ Für Großteile seines Auftritts als Quacksalber in Rindschleiden wird Musiker und Konzeptleiter Jean Bermes eine Maske tragen. Das ist nicht nur unbequem, sondern hat auch einen konkreten Einfluss auf die künstlerische Performance: Das Textverständnis wird zur Herausforderung, die Mimik geht größtenteils flöten, sodass der Sänger versuchen muss, seine Ausdrucksfähigkeit auf Augen und Körper zu verlagern.
Maskentragende Quacksalber mögen sogar im schrägen Theateralltag eher ungewöhnlich wirken – in der neuen Produktion von „kopla bunz“ werden momentane sanitäre Einschränkungen aber inhaltlich legitimiert: „An de Spillmann ass do“ entführt den Zuschauer im Rahmen einer interdisziplinären künstlerischen Führung durch das Dorf Rindschleiden und das Heimatmuseum Thillenvogtei in eine Welt, in der Seuchen, mangelnde Hygienezustände und Armut den Alltag Luxemburgs durchdrangen.
„Das Heimatmuseum Thillenvogtei hatte uns eigentlich gefragt, eine gesungene Führung zu organisieren – mit den thematischen Schwerpunkten Auswanderung, alte luxemburgische Lieder und Handwerksberufe. Wir wollten dies ein wenig aufbauschen“, so Jean Bermes. Schnell entstand die Idee, aus der Not eine Tugend zu machen – und die momentanen Einschränkungen in die Fiktionswelt einzuflechten. So wird das Maskentragen zum festen Bestandteil der fiktionalen Rekonstruktion einer vergangenen Welt, die mehr Parallelen zur heutigen Gesellschaft aufzeigt, als uns lieb wäre.
„Die Selbstverständlichkeit, mit der wir die letzten paar Jahrzehnte dachten, dass Krankheit kein Thema mehr ist und wir unter perfekten Hygienebedingungen leben, erweist sich heute als Trugschluss. Seuchen waren für die Menschheit immer ein Thema – damals haben sie den Alltag jedoch noch stärker beeinflusst“, erklärt Produktionsleiterin und Regisseurin Dagmar Weitze. „An de Spillmann ass do“ lässt Zeiten wiedererwachen, in denen Frauen wie Kinder die Geburt oftmals nicht überlebten, die Versorgung mit ausreichend Essen und sauberem Wasser nicht unbedingt gewährleistet, das Vieh oftmals von der Rinderpest befallen war und die Armut viele Luxemburger zur Auswanderung bewegte.
Ein Dorf (wieder-)beleben
Jeden Montag werden vier auf sieben Besucher limitierte Gruppen durch Rindschleiden geführt – ein Dorf, das eigentlich einen einzigen Einwohner und zwei Schweine zählt. Diese Verlassenheit erlaubt es der Truppe, ein semi-fiktionales Dorf zu erfinden. „Weil jede dieser vier Gruppen ihre Führung woanders anfängt, hört man die anderen Auftritte aus der Ferne, sodass das Dorf irgendwie belebt wirkt“, so Dagmar Weitze. Die Führung ist in sechs Stationen à zehn Minuten aufgeteilt: Eine Etappe findet draußen statt, zwei im Museum, die restlichen drei in der Kirche, der Schule und dem Pfarrhaus.
Zwischen zwei Auftritten gibt es für die einzelnen Darsteller immer wieder Verschnaufpausen, die es ihnen erlauben, sich während anderer Performances in irgendeiner Form zu manifestieren, um so der fiktionalen Welt eine zusätzliche Tiefe zu verleihen. „Ich finde, die Nachstellung des Dorflebens ist es eigentlich, was dieses Spektakel ausmacht – mehr noch als die Vermischung von Musik, Theater und Tanz, die unsere Produktionen stets charakterisiert“, meint Dagmar Weitze.
Durch die kleinen Gruppen wirkt das Spektakel eigentlich intimer als ein herkömmlicher Auftritt – und dies trotz der pandemiebedingten Einschränkungen. „Zwischen den Gruppen entstehen jeweils ganz verschiedene Dynamiken, auf die man als Darsteller dann auch anders reagiert“, erklärt Jean Bermes, der diese Form von mobilem Spektakel als komplementär zu institutionalisierten Performances sieht. „Es ist stets spannend, sich mit einer Geschichte, einem vorgeschriebenen Ort auseinanderzusetzen.“ Wobei Rindschleiden durch die „Routwäissgro“-Episode über eine Kneipe in dem verlassenen Ort bereits vor kurzer Zeit im (künstlerischen) Rampenlicht stand.
Für das Projekt recherchierte Jean Bermes die passenden Lieder im Merscher Literaturarchiv, im Austausch mit Spezialisten wie Georges Urwald oder auch ganz einfach im Internet. Ihm ist dabei aufgefallen, dass viele Tänze eine exorzisierende, therapeutische Funktion hatten: So liegt der Echternacher Springprozession eine Wallfahrt zur Heilung des Veitstanz zugrunde, während die italienische Tarantella der Linderung von Spinnenbissen dienen sollte. Ergänzt wird die Auswahl um Auswandererlieder, die Bezug auf die Hungersnot und Seuchen nehmen und von dem gelungenen Entrinnen, aber auch vom Exil handeln.
Zusätzlich gab es vor Ort eine Menge an historischem Material: Unter den Dokumenten und Gegenständen, die Museumsinhaberin Elisabeth Ney im Laufe der Jahre ansammelte, hat ein Foto die Truppe von Beginn an fasziniert. „Das Foto vom ‚Zockernéckel‘, einem Neubrasilianer, der als Musiker, als ‚Spillmann‘ durch die Gegend zog, hat uns begeistert. Schnell hat sich diese Figur wie ein roter Faden durch den Schaffensprozess gezogen. Der Musiker, der am Hungertuch nagt und der nur während der Kirmes-Auftritte wirklich erwünscht ist – damit konnten wir uns identifizieren“, lacht Dagmar Weitze.
Die Seuche als Auslöser
Aus dieser historischen Figur hat Giovanni Zazzera einen tanzenden Neubrasilianer geschaffen, der das Schicksal einiger Luxemburger, die im frühen 19. Jahrhundert versuchten, vor ihrem Elend nach Brasilien zu fliehen, wiedergibt. Weil sie scheiterten, wurden sie in Luxemburg als „Brasilianer“ beschimpft. Daneben erwartet den Zuschauer Figuren wie Jean Bermes’ Quacksalber oder die enigmatische junge Dame (Julie Kieffer), die aus Paris zurückkehrt und sich unter den Dorfbewohnern nicht so recht wohlfühlt – was man angesichts von Figuren wie Tata Tréis (Dagmar Weitze), die Krankheiten stets ausräuchern möchte, dem strengen Lehrpersonal (Elisabeth Ney) durchaus nachvollziehen kann.
Die historische Recherche soll dabei aber nicht (nur) im Vordergrund stehen. Ela Baumann erklärt: „Wir sind eine Gauklertruppe von heute – und haben deswegen Raum und Thema musikalisch wie auch inhaltlich an die heutige Zeit angepasst. Ich spiele zwar Kirmes-Musik – aber mit meinem heutigen musikalischen Wissen. Auch unsere Choreografien entsprechen keinem historischen Versuch, die Volkstänze von damals zu rekonstruieren – sie werden in den heutigen, zeitgenössischen Kontext importiert.“
„Wenn Benoît Martiny und Fränz Hausemer in einer Band sind, werden Volkslieder eben nicht wie herkömmliche Volkslieder gespielt. Unsere Figuren haben eine historische Wurzel, lösen sich aber davon. Und dennoch: All diese Figuren – vom Quacksalber über den Neubrasilianer bis hin zum Gelegenheitstotengräber, dem Pfarrer oder der stummen Gänsemagd mit ihrer Dullemagique – gibt es irgendwie heute noch, wenn auch in abgewandelter Form“, so Jean Bermes.
„Unser jetziges Spektakel sehe ich als Teil eines Verdauungsprozesses der Aktualität, eine Art, die Pandemie in einer künstlerischen Form zu verhandeln. Die Seuche ist ein Auslöser, sie wird unser Verhalten langfristig beeinflussen. Wie sich unsere Gebräuche verändern: Das ist etwas, das die Kunst stets beschäftigt. Ich stelle mir manchmal vor, wie merkwürdig es vielleicht für Menschen in 100 Jahren erscheinen wird, dass sich ihre Vorfahren mal die Hände geschüttelt haben. Zu Beginn der Pandemie konnte ich mir nicht mal einen Prä-Corona-Film anschauen, weil es mir so bizarr erschien, dass sich da Leute umarmen oder küssen“, meint Ella Baumann.
Angst, dass die Pandemie zum einzigen Thema der zukünftigen Kulturproduktionen wird. haben die Projektleiter von „kopla bunz“ allerdings nicht. „Der ‚Spillmann‘ soll regelmäßig wiederkehren. Die Idee war es, ein Format und ein Konzept zu entwickeln, das es uns erlaubt, das Museum und die Umgebung wiederholt mithilfe von anderen Thematiken zu bespielen“, erklärt Dagmar Weitze. Und Jean Bermes fügt hinzu: „Unsere nächste Produktion wird ein Stück für Kinder zum Thema Wut sein.“
Info
Die Performances finden noch bis zum 29.8.2020 jeweils montags von 20.00 bis 21.30 Uhr statt. Eintritt: gratis. Besuch nur mit Anmeldung: info@visitguttland.lu / +352 28 22 78 62 / www.visitguttland.lu/de/gefuehrte-sommerbesichtigungen
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