Theater / Sterben in fünf Anläufen: „So dunkel hier“ von Elise Schmit in einer Inszenierung von Anne Simon
Geschichtsschreibung in fünf Anläufen: „So dunkel hier“ füllt die Grauzone um den Freitod von Gauleiter Gustav Simon mit möglichen Fiktionswelten. Anne Simons Inszenierung will das Theater-Pendant zu „Inglorious Basterds“ sein, verzettelt sich aber trotz guter Einfälle stellenweise in einem etwas bemühten Allerlei.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges versteckt sich Gauleiter Gustav Simon, von 1940 bis 1944 Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg, unter falschem Namen in Deutschland. Nazijäger Hanns Alexander, ein emigrierter Berliner Jude, findet und verhaftet den verhassten Gauleiter. Zusammen mit der Luxemburgerin Léone Muller soll er Simon in Luxemburg ausliefern. Eine Art Alibi-Konvoi dient als Vorwand, um den „kleinen Gauleiter“ des kleinen Landes zusammen mit Richard Hengst, dem ehemaliger NSDAP-Oberbürgermeister der Stadt Luxemburg, zurück ins Großherzogtum zu bringen. Trotz ständiger Überwachung soll sich Simon, so will es eine offizielle Überlieferung, in seiner Zelle in Paderborn aufgehängt haben.
Am Anfang steht die Faszination für eine Verwischung in der luxemburgischen Geschichtsschreibung: Wie Autorin Elise Schmit in ihrer Notiz zur Genese des Stücks erklärt, ist sie mit der „angeblich ‚wahren‘ Geschichte vom Tod Gustav Simons aufgewachsen“. Interessant sei dabei gewesen, dass es keine einheitliche Geschichte gebe, sondern vielmehr zig Varianten, an deren Ende jeweils ein „lebloser Körper“ präsentiert wird.
Anstatt ein lineares Stück zu schreiben, hat Schmit ein Baukastenstück konzipiert, das Regisseurin Anne Simon zusammengestellt hat. „So dunkel hier“ ist ein Open-Air-Huis-clos: Das Stück schildert in mehreren Varianten die Geschichte dieses Gefangenenkonvois – was als überdrehte Slapstick-Einlage mit Pantomime und Popcorn-Faktor beginnt, spitzt sich im Laufe der Fahrt zu und wird zu einer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit Luxemburgs, in dem Themen wie Schuld, Vergeltung, Justiz und Gerechtigkeit verhandelt werden. Dass man „oben“, also mit den bekannten Nazigesichtern, die sich bereits in Anne Simons „Ashcan“ auf der Bühne des TNL tummelten, anfangen und es dabei belassen soll, sieht Hanns Alexander nicht ein – denn danach gehe es „noch eine ganze Weile bergab“. Wie viel Erinnerung, wie viel Vergeltung braucht es, damit der Rechtsstaat wieder gedeihen kann? Diese Fragen stellt sich auch Kazuo Ishiguro in Romanen wie „The Artist of the Floating World“ oder „The Buried Giant“. Die ethisch ausgetragenen Zwiegespräche zwischen Léone und Hanns erinnern nicht zuletzt an Ferdinand von Schirachs „Terror“.
Mögliche Welten
Ein Stück in fünf Anläufen: Die Idee ist gut, die textliche Umsetzung meist spannend. Seit John Fowles’ „The French Lieutenant’s Woman“ spielt die Postmoderne immer wieder mit Erzählungen, die am Ende ausfransen, um der vermeintlich geradlinigen Geschichte die Vielschichtigkeit einer historiografischen Metafiktion draufzusetzen. Mit den Mitteln der Fiktion werden die Wissenslücken ausgemalt – so belegt man, dass Spekulation, Hypothesen oder Urban Legends durch ihre Hartnäckigkeit einen ebenso wichtigen Teil unserer Geschichtsschreibung ausmachen als das, was allgemein an Universitäten gelehrt wird und oftmals von Dunkelzonen umgeben ist. Der französische Schriftsteller Antoine Volodine nennt dies ein „faseyage narratif“: eine Vervielfältigung der Wirklichkeitsdarstellungen, um dem Schein eines singulären, historisch authentischen Narrativs die Vielfalt der ungewissen mündlichen Überlieferung entgegenzustellen. Paul Valéry sagt dazu: „Ce serait là substituer à l’illusion d’une détermination unique et imitatrice du réel, celle du possible-à-chaque-instant.“
In der Umsetzung geht aber so einiges von Schmits Text, der die Mögliche-Welten-Semantik(1) nicht etwa nutzt, um auf historiografischer Ebene herauszufinden, welcher Ausgang der wahrscheinlichste war, sondern um die Rolle dieses Todfalles in der Wiederherstellung der Demokratie zu ergründen, verloren. Elise Schmits Humor ist staubtrocken (in Bezug auf Richard Hengst regt sich Hanns Alexander auf: „Was für ein fauler Haufen, in dem sogar die Pferde Schweine sind“), ihre Sprache punktgenau, schnörkellos, oft doppelbödig. Anne Simons Inszenierungen sind bunt, überladen, überschwänglich. Das Vorhaben, das Stück als „Show, die Geschichte schreibt“, aufzuspielen, funktioniert nur bedingt, da dieser explizite Metarahmen, der dem Zuschauer vermitteln soll, dass die Geschichtsschreibung der Fiktion und dem Theater unterliegt, den Ton oft nicht trifft: Für eine Show ist das Stück dann doch nicht spritzig genug. Besonders die ersten Sequenzen enttäuschen – ein Boxring, in dem sich Gut und Böse gegenüberstehen, eine viel zu lang geratene Diskussion über die Sitzverteilung im Auto, deren Metaphorik im Slapstick und in der Redundanz untergeht.
Vom Klamauk ins Dunkle
Seit den Nazijägern in „Inglorious Basterds“ werden im Nationalsozialismus verankerte Geschichten immer wieder mit Stilmitteln wie Slapstick oder Klamauk inszeniert. Bei Tarantino funktioniert dies, weil man dank der ersten Sequenz des Films zu keinem Zeitpunkt aus den Augen verliert, wie bedrohlich diese lächerlich dargestellten Mörder doch sind. Anne Simons Wahl, langsam vom Klamauk in die Dunkelheit zu führen, geht nicht ganz auf. Hat man Bösenbergs Hengst erstmal in pinken Turnschuhen und Bademantel herumlaufen sehen, fällt es schwer, die Figur des heuchlerischen Opportunisten später ernst zu nehmen. Klar ist das so intendiert – aber muss das Kostüm noch verdeutlichen, was Spiel und Text auch so schon vermitteln? So lustig sind Nazis eben nicht – insbesondere nicht, wenn sie in der Fiktion plakativ dämlich auftreten, während sie draußen, in der Wirklichkeit, Hasstiraden von sich geben. Auch auf der Seite der Guten fehlt es an Tiefe: So wiederholt Konstantin Rommelfangen seine Wutausbrüche, auf die er ein höfliches „Entschuldigen Sie“ folgen lässt, einen Tick zu oft.
Gewinnt das Stück mal an Fahrt, werden die einzelnen Szenen überzeugender. Gauleiter Simon versucht Hengst davon zu überzeugen, er wäre immer noch „einer von uns“, während Hanns Alexander dem Bürgermeister den Wind aus den Segeln nimmt, indem er die üblichen Erklärungsmuster – „ich habe das richtige in dem falschen gesucht“, „ich habe nur Befehle ausgeübt“ – als widerwärtige Klischees entlarvt. Je schneller die Varianten auf den Punkt kommen, desto besser klappt auch das Metatheater: Nach einem der möglichen Gauleiterableben urteilt jemand lakonisch: „Auch eine Variante.“ Dabei hat die Wiederholung der Hinrichtungen, ganz nach dem Motto „Einmal ist keinmal“, einen nahezu kathartischen Effekt: So findet die historische Wirklichkeit, in der Mitläufer wie Hengst so lange in die Nachkriegsgesellschaft eingewoben wurden, bis sie am Ende der Karriere als waschechte Philanthropen dekoriert wurden, eine tröstliche Antwort in einer Fiktion, in der nicht das Murmeltier, sondern der finale Nackenschuss stündlich grüßt.
Das sparsame Bühnenbild mit den vier Spielelementen, die Kofferraum, Mülltonne, Eckpfeiler eines Boxrings, Autotür und Stauraum zugleich sind, entfaltet in seiner Vielseitigkeit eine ästhetische Simplizität, die dem Stück an anderen Stellen gutgetan hätte. Der Open-Air-Dekor in Neimënster hat mit seiner historisch aufgeladenen Kulisse – der Text verweist mehrmals auf das Gefängnis im Grund – sicherlich einen symbolischen Stellenwert, nichtsdestotrotz fragt man sich, wieso genau dies unabdingbar war: Die Sicht auf die Rundumbühne ist oft unvorteilhaft und wenn das Raunen der landenden Flugzeuge die Gespräche manchmal überdeckt, so stört vor allem die Tonqualität – die ins Headset-Mikrofon gesprochenen Texte klingen teilweise versetzt, weswegen das Stück an Dynamik und Rhythmus verliert. So bleibt ein spannendes Projekt, dass in seiner überbordender Umsetzung streckenweise den Faden verliert.
(1) Lubomir Dolezel, Possible Worlds of Fiction and History, Baltimore, John Hopkins University Press 2010.
Alle Vorstellungen sind ausverkauft, eine Wiederaufnahme im Escher Theater ist allerdings bereits geplant.
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