Hörbuch / „Und alle so still“ von Mareike Fallwickl im Test
Eine feministische Dystopie: In „Und alle so still“ von Mareike Fallwickl bricht durch einen Frauenstreik das System zusammen. Wie finden sich die Menschen in der neuen Situation zurecht, die weder Ende noch Anfang ist? Eine (Hör-)Buchbesprechung.
„Wenn sowas passieren würde, würde das System zusammenbrechen.“ Aha, und dann? Diese Frage, die wie ein Widerhall aus den Pandemie-Jahren klingt, stellen sich die Protagonist*innen aus Mareike Fallwickls „Und alle so still“. Warum endet der Gedanke bei einem eventuellen Zusammenbruch? Warum bemüht sich niemand – keine Politiker*innen und keine Wissenschaftler*innen – darum, herauszufinden, was danach passieren könnte. Denn weiter geht es immer, nur anders als zuvor.
Elin, Nuri und Ruth, deren Leben und Erfahrungen abwechselnd im Roman dargestellt werden, befinden sich in einer Krisenzeit. Mit Corona hat das Ganze nichts zu tun. Dennoch steht die Gesellschaft kurz vor dem Zusammenbruch. Auslöser dafür ist, dass einige Frauen aufhörten, ihre Aufgaben (auf der Arbeit und darüber hinaus) zu erfüllen. Vor einem Krankenhaus legten sie sich nieder, stillschweigend, und blieben Stunden lang liegen. Anfangs wurden sie als Spinnerinnen abgetan. Am Folgetag kehrten sie zurück. Dieses Mal waren es mehr. Nach und nach stieg die Zahl der still streikenden Frauen, bis die Versorgung im Krankenhaus zusammenbrach, Schulen und Supermärkte geschlossen wurden.
Ruth ist Krankenschwester. Trotz der prekären Lage legt sie ihr Amt nicht nieder. Allein um all den Frauen zu helfen, die eingeliefert werden, weil sie vermehrt wegen ihrer „Arbeitsverweigerung“ selbst zu Hause angegriffen werden. Es ist eine Art Rache an ihnen. Sich hinzulegen, ist nun einmal kein Verbrechen. Aber das ließe sich ja ändern … Die Fronten zwischen Frauen und Männern verhärten sich. Und nur wenige kämpfen gegen das Schwarz-Weiß-Denken an. Einer von ihnen ist Nuri, ein junger Mann mit Migrationshintergrund. Er hangelt sich von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob, stellt dabei seine Gesundheit aufs Spiel. Sein Gehalt ist trotzdem erbärmlich und Nuri lernt auf die harte Tour, dass Fleiß nicht reich macht und strukturelle Armut nichts mit fehlendem Engagement zu tun hat. Wie die Frauen, die vor dem Krankenhaus liegen, wurde er stets anders behandelt. Seit er denken kann, wurde auf ihn herabgeschaut, schließlich war er nur der Bettenschieber, nur der Essenslieferant, nur die Putzkraft.
Verfallsprodukt oder Experiment?
Eines Nachts trifft Nuri auf Elin. Elin ist Influencerin und Nymphomanin. Wie bei jeder Sucht versucht sie, eine innere Leere zu kompensieren. Kurz nachdem Elin Opfer von Stealthing (Red.: Missbrauchsform, bei der vor oder beim Geschlechtsverkehr das Kondom ohne Konsens entfernt wird) wird, schließt sie sich der Frauenbewegung an, die ausgerechnet von ihrer Großmutter initiiert wurde. Durch ihr Engagement und – fast ironischerweise – durch das Kümmern um andere, findet Elin erstmals heraus, was eine Saite in ihr zum Klingen bringt.
Mareike Fallwickls Werk beschäftigt sich mit Feminismus, Solidarität, sozialen Ungleichheiten und Care-Arbeit – Themen, die spalten, Themen, die nicht jedem schmecken. So wurde ihr Roman unter anderem in der Zeit als „Verfallsprodukt des Erzählens“ beschrieben, der „frei von jeder erzählerischen Ambition“ sei. Womöglich störte sich Zeit-Rezensentin Maja Beckers bereits am etwas holprigen und plakativen Bucheinstieg mit Elins Sexsucht. Kurze Zeit später spielt diese – zum Glück – keine bedeutende Rolle mehr. Aber wie heißt es so schön: „sex sells“.
Von einer mangelnden erzählerischen Ambition kann jedoch nicht die Rede sein. Geschickt gelingt es der Autorin, die Schicksale von Ruth, Nuri und Elin durch (teilweise) familiäre Bande und ähnliche Gefühlswelten miteinander zu verweben. Vielmehr als ein „Verfallsprodukt“ ist „Und alle so still“ ein Gedankenexperiment, das anregt, über das aktuelle System nachzudenken und darüber, was nach seinem Zusammenbruch passieren könnte. Am Ende ist Fallwickls Roman genau das, was er sein soll: ein literarisches Werk, das nicht dazu verpflichtet ist, eine Antwort auf alles zu geben.
In der Hörbuchadaptation werden Ruth, Nuri und Elin von Marie-Isabel Walke, Astrid Kohrs und Henning Nöhren gesprochen. Die Interpret*innen sorgen nicht nur für ein klanglich stimmiges Hörerlebnis, die „Dreiteilung“ vereinfacht es auch. Auf diese Art und Weise ist stets klar, wenn ein Perspektivenwechsel zwischen den Protagonist*innen erfolgt. Es ist eher eine Seltenheit, dass mehrere Sprecher*innen für die Vertonung ein und desselben Audiobooks engagiert werden – und so wird aus dem Hörbuch ein wahres Hörspiel.
Schade ist daher, dass jedes Kapitel von nur einer Person vorgelesen wird, selbst wenn eine andere Hauptfigur darin das Wort ergreift. Störend ist ebenfalls, dass sich die Interpret*innen im Vorfeld wohl nicht auf eine einheitliche Aussprache des Namens „Elin“ geeinigt haben. An einigen Stellen hätte man demnach noch feilen können, um das Konzept des Hörspiels zu vervollständigen. Dennoch sind die Interpretationen von Walke, Kohrs und Nöhren sehr gelungen.
„Und alle so still“ von Mareike Fallwickl, Argon Audio, April 2024
Köpfe und Stimmen hinter „Und alle so still“
Mareike Fallwickl (Autorin)
Mareike Fallwickl, 1983 geboren, ist eine österreichische Autorin. Fallwickl setzt sich für Literaturvermittlung ein, mit Fokus auf weiblichen Erzählstimmen. 2018 erschien ihr erster Roman „Dunkelgrün fast schwarz“. 2019 folgte „Das Licht ist hier viel heller“. Die Bühnenfassung ihres Bestsellers „Die Wut, die bleibt“ hatte im Sommer 2023 Premiere bei den Salzburger Festspielen. „Und alle so still“ erschien im April dieses Jahres.
Marie-Isabel Walke
Marie-Isabel Walke, 1984 in Magdeburg geboren, ist eine deutsche Schauspielerin, Hörbuchsprecherin und Synchronsprecherin. Mit „Die Wut, die bleibt“ vertonte sie 2022 schon einmal eines von Fallwickls Werken.
Astrid Kohrs
Astrid Kohrs, 1969 in Hamburg geboren, ist eine deutsche Schauspielerin. Gemeinsam mit Jürgen von der Lippe gibt sie derzeit „hormonisch-dialogische“ und politisch unkorrekte Comedy-Lesungen.
Henning Nöhren
Henning Nöhren, 1985 geboren, ist ein deutscher Schauspieler, Synchronsprecher, Hörbuchsprecher und Sänger. Nöhren verkörperte vereinzelt Rollen in TV-Produktionen wie „Der Landarzt“, „Soko Leipzig“, „Soko Köln“ und „Tatort“.
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