Im Kino / Von Erinnerungslücken bis zu Filmikonen: „Memory“ und „Marcello Mio“
Die einen kämpfen gegen persönliche Dämonen, die anderen gegen den ständigen Vergleich mit ihren berühmten Eltern: „Memory“ und „Marcello Mio“ im Überblick.
„Memory“ – Vom Vergessen
Der mexikanische Filmemacher Michel Franco präsentiert mit „Memory“ ein eindringlich gespieltes Beziehungsdrama, mit Jessica Chastain und Peter Sarsgaard in den Hauptrollen. „Memory“ ist ein Film über die Komplexität menschlicher Gefühlslagen, der sich über analytische Strenge entfaltet, weniger über das emotionale Erleben.
Da wo das Kino von Demenz erzählt, bedient es sich gerne elaborierter narrativer Strukturen: Analepsen und unzuverlässiges Erzählen werden dann gerne zu stilbildenden Mitteln, man denke an jüngere Filmbeispiele wie „The Father“ unter der Regie von Florian Zeller oder noch Viggo Mortensens Regiedebüt „Falling“ (beide 2020). Der mexikanische Filmemacher Michel Franco hat für seinen Film eine klare chronologische Struktur gewählt, erzählt nicht aus der unmittelbaren Subjektiven, und doch klaffen da die Risse auf, in den Dialogen, in den Wortgefechten, die sein neuer Film „Memory“ bereithält.
Unausgesprochene Traumata
Darin begleiten wir die Sozialarbeiterin und alleinerziehende Mutter Sylvia (Jessica Chastain). Dass sie eine belastende Vergangenheit mit sich trägt, lässt sich unschwer an ihrer steinernen Mine ablesen. Regelmäßig besucht sie die Treffen der Anonymen Alkoholiker, sie selbst trinkt seit fünfzehn Jahren nicht mehr. Als sie nach einem Klassentreffen den ehemaligen Kameraden Saul (Peter Sarsgaard) wiederfindet, versuchen beide eine Beziehung zueinander aufzubauen – ein schwieriges Unterfangen, verbindet beide doch eine traumatisch belastende Vergangenheit, die noch durch Sauls immer stärker werdende Demenz umso schwieriger aufzuarbeiten wird. Auch Sylvias eigene Dämonen, die Alkoholabhängigkeit und der sexuelle Missbrauch, treten dabei zunehmend an die Oberfläche.
Der Filmemacher Michel Franco lässt vieles in diesem komplexen Beziehungsdrama vorerst unausgesprochen. Alles, was zunächst zur Sprache kommt, ist hochgradig zweifelhaft: Sauls Gedächtnisschwund lässt ihn vorerst zwielichtig erscheinen. Sylvia äußert dann auch noch schwerwiegende Vorwürfe: Sie will in Saul einen ihrer einstigen Vergewaltiger sehen. Aber stimmt das? Sylvias Behauptung wird angefochten von anderen – steckt dahinter nicht ihr eigener Schutzmechanismus? Liegt die eigentliche Wahrheit nicht tiefer in ihrem Innern? Es mag an den jeweiligen emotionalen Narben liegen, dass zwischen beiden bald eine immer stärker werdende Anziehungskraft entsteht. Je weiter Michel Francos Filmdrama in dieses komplexe Beziehungsgeflecht vordringt, desto klarer wird sein Anspruch: Dem Publikum immer neue Facetten zu eröffnen, es herauszufordern, sich selbst zu dem Geschilderten zu positionieren.
Distanz zur Kamera
Dieser kühlen Zugangsweise entspricht allein schon die sehr distanzierte Formsprache: Yves Capes Kamera ist eine des nüchternen Registrierens. Halbtotale Einstellungen dominieren das äußere Erscheinungsbild, die keine wahre Nähe stiften, sich nicht anbinden an die Figuren. Ferner noch steht da der entschiedene Verzicht auf Großaufnahmen und untermalende Filmmusik. Francos Film zeigt so, dass analytische Schärfe und klare Fokussierung anstelle des emotionalen Erlebens treten können – auch in einem Beziehungsdrama. Ein Beziehungsdrama ganz ohne sentimentale Einschübe, ohne große Gefühlsausbrüche. Der Nuance und dem Zwischenton, den Pausen und den Leerstellen gilt hier die schauspielerische Aufmerksamkeit. Das Darstellerpaar Chastain-Sarsgaard verschreibt sich in der Folge der Konzentration und der Reduktion. In der überwiegenden Zurücknahme, dem emotionalen Verschließen, liegt das Potenzial dieser Schauspielleistungen.
Beide erzählen so letztlich von der Komplexität der Erinnerungen, mehr noch vom Vergessen: dem demenzbedingten Vergessen einerseits, von der (Un-)möglichkeit des willentlichen Vergessens andererseits. „Memory“ zeigt über sein vordergründiges Thema, wie schwer es ist, seine Zukunft zu gestalten, wenn die Erinnerung an das Vergangene entweder nicht mehr zugänglich ist oder nicht mehr ganzheitlich aufgearbeitet werden will.
Zu sehen im Ciné Utopia
„Marcello Mio“ – Im Schatten des Vaters
Mit „Marcello Mio“, einer Filmkomödie über das schwierige Verhältnis von Chiara Mastroianni zu ihrem Vater, hat der französische Regisseur Christophe Honoré im Wettbewerb bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes eine sehr filmvernarrte Komödie präsentiert, die aber kaum über ihren eigenen filmspezifischen Status hinausweisen will.
Chiara Mastroianni, Catherine Deneuve, Melvil Poupaud, Fabrice Luchini, Nicole Garcia und andere spielen sich selbst – in einem Film, der vor allem eine Huldigung an den großen italienischen Schauspieler Marcello Mastroianni (1924-1996) ist, zugleich aber von der schwierigen Vater-Tochter-Beziehung erzählt, die sich aufgrund seines ewigen Ruhms für seine Tochter ergibt. Denn darum geht es in „Marcello Mio“, dem neuen Film des französischen Regisseurs Christophe Honoré: Chiara Mastroianni wird von ihrem Umfeld immer wieder auf ihren Vater angesprochen, immer wieder wird sie mit ihm verglichen, so sehr steht sie im Schatten dieser einstigen Schauspielgröße, die nahezu zu dem Gesicht des ‚Goldenen Zeitalters‘ des italienischen Nachkriegskinos der Fünfziger- und Sechzigerjahre wurde. Als dann eine Regisseurin von ihr verlangt, doch etwas mehr zu spielen wie ihr Vater und weniger wie sie selbst, verfällt sie in einen Schock.
Stichwort Travestie
Als sie am darauffolgenden Tage plötzlich das Schwarz-Weiß-Bild ihres Vaters im Spiegel sieht, ist die Identitätskrise vollends erreicht: Von nun an kleidet sie sich in Herrenanzüge, setzt sich Perücke und Männerhut auf und klebt sich sogar einen Schnurbart an, dem Bild ihres Vaters aus „Ginger e Fred“ (1986) entsprechend. Die Travestie, die sie mitsamt den Elementen des Crossdressings betreibt, nutzt „Marcello Mio“ für sein komödiantisches Potenzial und wirft so ebenfalls Fragen zum Transgender auf, die Honoré womöglich nicht beabsichtigt hat. „Mein inneres und mein äußeres Selbst sind jetzt endlich im Einklang“, sagt Chiara an einer Stelle – nicht ganz ist da zu bestimmen, ob Honoré entsprechende Äußerungen als (vielleicht sogar ungewollte) Spitze gegen aktuelle identitätspolitische Diskurse formuliert, die das gesellschaftliche Miteinander zurzeit bestimmen.
Honoré präsentiert mit „Marcello Mio“ aber in allen Fällen einen sehr persönlichen und überaus französisch-italienischen Film, der sich zuvorderst an ein cinephiles Publikum richtet. Allein seine Anfangssequenz zitiert die berühmte Brunnen-Szene aus „La dolce vita“ (1960) … es sind mal explizite, mal implizite Verweise auf die Filmgeschichte selbst. So entwickelt sich „Marcello Mio“ zunehmend zu einer hermetischen Blase an Filmverweisen, in der er sich erschöpft. In diesem Bezugsgeflecht aber findet er ganz zu sich selbst. Dieser Film um Identität, Erinnerung und Vermächtnis nimmt sich nämlich, bei all den komödiantischen Einlagen, die er bereithält, überaus ernst. Zum einen huldigt er ebenso verspielt wie ehrfurchtsvoll einer Schauspielgröße, zum anderen beschaut er fast schon intimistisch die Vater-Tochter- und die Tochter-Mutter-Beziehung, die auch eine durch und durch filmimmanente ist.
Bezug zur Realität
Im Innern der Originalwohnung des einst unverheirateten Paars Mastroianni-Deneuve kommt es zu Erinnerungen und zur leisen Konfrontation: Die Tochter, die ihrem Vater und ihrer Mutter, diesen beiden großen Stars des europäischen Nachkriegskinos, wie aus dem Gesicht geschnitten ist, leidet unter diesem fixen Zuschnitt und der kollektiven Vereinnahmung, die sie immerzu begleitet.
Ihre Eigenständigkeit zu behaupten, obwohl gerade diese familiären Verhältnisse ihren Stand im Filmgewerbe erleichtern, macht das zentrale Konfliktfeld von „Marcello Mio“ aus. Doch stellt der Film noch eine weitere, tiefer gehende Frage: Besitzt ein Filmstar überhaupt ein privates Ich oder gehört er nicht, im Sinne eines Kulturguts, der Öffentlichkeit? Honoré bespielt damit zwei Wirkungslinien in „Marcello Mio“: die der ernsthaften Selbstbefragung und die der verspielt-humoristischen kollektiven Gesamtbetrachtung.
Zu sehen im Kinepolis Belval und Ciné Utopia
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