Film / Von Kriegskrüppeln, Mördern und Opportunisten: die luxemburgische Koproduktion „Hinterland“
Ein Serienmörder meuchelt in einem traumatisierten Nachkriegswien: Ruzowitzkys AMOUR-FOU-Koproduktion „Hinterland“ bettet die Gräueltaten aus David Finchers „Seven“ in eine gesellschaftliche Analyse à la „Das weiße Band“ von Michael Haneke und eine surreale Ästhetik. Was der Film stellenweise an Subtilität einbüßt, gewinnt er an Spannung und Einfühlsamkeit.
Als der ehemalige und überaus talentierte Kriminalbeamte Peter Perg (viriler, als es das 21. Jahrhundert erlaubt: Murathan Muslu) am Ende des Ersten Weltkriegs mit einer Truppe Soldaten aus der russischen Gefangenschaft nach Wien zurückkehrt, fällt der Empfang weniger glorreich als erwartet aus: Nicht nur werden die Soldaten kaum für ihren Einsatz für das Vaterland gefeiert, nein, man bietet ihnen großzügig Unterschlupf im Wiener Obdachlosenheim an und vermittelt allzu deutlich, dass sie nun auf sich allein gestellt sind.
Überall stoßen die traumatisierten Überlebenden auf Verachtung: Nach dem Krieg wurde Österreich vom großen Kaiserreich zur bedeutungslosen Republik degradiert – und irgendjemand muss ja wohl schuld sein. Da Perg und seine Leidensgenossen in russischer Gefangenschaft waren, sind sie zudem, man ist sich sicher, nunmehr Spitzel der Bolschewiks. So sehen es zumindest die Offiziere, Adlige und Polizeiangestellten, die in der neu geschaffenen Republik heuchlerisch alte Werte über Bord werfen und mit den Ellenbogen um einen Platz an der Spitze rangeln. Die deutschen Nationalsozialisten, meint jemand, sind vielleicht die Einzigen, an die man sich nunmehr halten kann.
Genauso einladend wie seine Einwohner sieht auch die Stadt selbst aus. Expressionistisch, surreal, kubistisch, erinnert „Hinterland“ in seiner Ästhetik und seiner formalen Gewagtheit an Filme wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ oder „Sin City“, aber eben auch an die Gemälde eines Otto Dix oder an einen Hieronymus Bosch mit mehr Realitätsbezug. Die erste Sequenz gibt bereits den Ton an: Nachdem die Soldaten die Leiche eines im Laderaum des Schiffs verstorbenen Leidensgenossen (Konstantin Rommelfangen, der genau wie Schauspielkollege Timo Wagner vor seinem Ableben knapp 30 Sekunden Spielzeit bekommt: Die Luxemburger Schauspieler sind hier gleich zweimal Kanonenfutter) über Bord geworfen haben, schiffen die restlichen Überlebenden auf einem Kutter über einen Fluss, der mehr Styx als Donau zu sein scheint – um sie herum sehen sie schiefe Bilder der Verwahrlosung.
Im Nachkriegswien hängen nicht nur die Bilder schief: Die ganze Stadt ist verzerrt, die Gebäude sehen aus, als würden sie jeden Moment ineinander fallen, bei Innenraumszenen ist der Boden meist so krumm, dass der Zuschauer fast seekrank werden könnte, die schwindelerregenden Kameraperspektiven tun ihr Übriges, um dem Zuschauer zu vermitteln: Diese Stadt ist ebenso entstellt wie die Kriegsüberlebenden, die in ihr herumirren.
Perg erkennt nicht nur seine Stadt nicht wieder, nein, er selbst passt nicht mehr in dieses Österreich. Die Hausmeisterin gibt ihm zu verstehen, dass sein ehemaliger Kollege Victor Renner (fies und überzeugend hassenswert: Marc Limpach), der trotz sichtlich mangelnder Kompetenzen zum Polizeirat ernannt wurde, sich etwas zu gut um seine Frau, die mittlerweile aufs Land gezogen ist, gekümmert hat.
Dazu kommt, dass es ein Serienmörder auf einige seiner Kriegsgenossen abgesehen hat und diese auf eine solch qualvolle Art tötet, dass man denken könnte, der Mörder hätte sich anachronistisch an David Finchers „Seven“ inspiriert: Einer wird von ausgehungerten Ratten aufgefressen, einem anderen hat man insgesamt 19 Finger und Zehen abgetrennt. Schnell steht Perg im Zentrum einer Ermittlung, die ihm näher geht, als ihm lieb wäre. An seiner Seite stehen dabei der anfangs mehr als skeptische Kommissar Paul Severin (Max von der Groeben) und die Gerichtsmedizinerin Theresa Körner (Liv Lisa Fries).
Nach dem Krieg ist vor dem Krieg
„Ich bin der Vorbote der Morde von morgen“, verkündigt der in einem spannenden, wenn auch mit einem etwas vorhersehbaren Twist gespickten Showdown in die Ecke gedrängte Mörder – und man kommt nicht darum herum, an Hanekes „Das weiße Band“ zu denken, auch wenn die Art, wie sich hier in der frühen Nachkriegsgesellschaft bereits der nächste Weltkrieg ankündigt, eher wenig subtil dargestellt wird. Wenn er abends durch die Stadt geistert und im Laufe seiner Ermittlungen auf Bilder der Gewalt und der Dekadenz stößt, die er manchmal auch selbst hervorruft (siehe die tolle Blasphemie-Szene), fühlt Perg einen seltenen Anfall von Normalität: Hier fühlt er sich wohl, das ist seine Welt geworden, seine neue Normalität – wobei der Film darüber Aufschluss gibt, dass Perg auch davor in der dunklen Welt abartiger Morde zu Hause war.
Und dabei sind wir auch bei einem der Trümpfe des Films: Auch wenn die Figurenzeichnung manchmal etwas karikaturhaft ausfällt (dass zwischen Perg und dem ihm anfangs feindlich gesinnten Paul Severin so etwas wie eine Freundschaft entstehen würde, war fast genauso klar wie die aufkeimende, zärtliche Beziehung zwischen Theresa und Peter), wird die Darstellung toxischer Männlichkeit durch die hoffnungstragende Figur von Theresa Körner ausbalanciert: Sie ist es, die Perg beim Pflastern seiner (seelischen) Wunden hilft.
Denn paradoxerweise wurde den Frauen durch die Abwesenheit der kämpferischen Männer im Nachkriegswien zumindest streckenweise der Platz eingeräumt, den sie verdienen: Das Damoklesschwert des nächsten Konflikts, das über dieser Fiktionswelt hängt, verdeutlicht allerdings auch, dass auch dieses emanzipatorische Potenzial dem Weltkrieg zum Opfer fallen wird. Diese toxische Männlichkeit verurteilt auch Nebenfigur Chouchou, den Liebhaber eines Genossen, der seine Homosexualität verschwiegen hatte, als er Perg erklärt: „Wenn ihr in Friedenszeiten nicht solche Angst hättet, euch anzufassen, bräuchten wir keine Kriege.“
Trotz einiger erzählerischer Abkürzungen, Vereinfachungen in der Figurenzeichnung und Momente von klischeehafter Inszenierung – in einer Szene werden Pergs Kriegsalbträume als Schattenumrisse schwarzweiß auf die Schlafzimmermauer projiziert, bis ein scheinbar realer, farbiger Blutfleck wirkungsvoll, aber eben auch etwas überdeutlich, auf die Mauer spritzt – bleibt „Hinterland“ ein formal interessanter, spannender Thriller, der sich für die Darstellung seiner Epoche und Figuren durchaus mehr Zeit hätte lassen können.
Der Film läuft im Utopia und im Kinepolis Kirchberg.
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