Filmwelt / Von Macht, Schauspielrollen und einem Aufsteiger
Die 81. Filmfestspiele von Venedig neigen sich dem Ende zu und die ersten Favoriten für den Goldenen Löwen werden diskutiert. Die Wettbewerbsfilme machen thematische Konstanten sichtbar – ein Streifzug durch das Programm.
Die Wettbewerbsfilme könnten unterschiedlicher nicht sein – Fragen der Macht, der Abhängigkeit, der Kontrolle, des Verlustes durchziehen sie als verbindendes Element nur lose, mal vordergründig, mal in Ansätzen. Dieses Jahr ist es besonders auch ein Schauspielerfestival: Rollenbilder, Starpersona und Castingstrategien prägen die Filme in besonderer Weise.
„Maria“
Da gibt es zunächst „Maria“ des argentinischen Regisseurs Pablo Larraín. Angelina Jolie gibt darin die berühmte Opernsängerin Maria Callas, die an ein Comeback glaubt. Auf die letzten Jahre zugeschnitten, beschaut Larraín darin die Diva, die Göttliche, die Unnahbare und er sieht die Privatperson, er erdet sie, besonders im Zusammenspiel mit ihren Bediensteten. Damit ist mitnichten ein klassisches Biopic entstanden, im Gegenteil: Wie zuvor in „Jackie“ (2018) und „Spencer“ (2022) überhöht er die Callas, die die Callas war, und ihr Privatleben, ihre Beziehung zu dem Reeder Aristoteles Onassis, die die Klatschpresse in Atem hielt. Es ist eine Arbeit am Mythos, eine Reflexion über Öffentlichkeitswahrnehmung, über kollektive Vereinnahmung – und über die Unmöglichkeit, eine historische Wahrheit zu destillieren, so sehr verschwindet Maria Callas hinter all diesen Ebenen, sie ist nicht zu fassen. Und es ist mal mehr, mal minder verdeckt ein Film über die Schauspielerin Angelina Jolie: Der Hollywood-Star feiert hier ein Comeback, eine reifere Rolle, abseits des gewohnten Rollenbildes – die Bezüge zum Klatsch-Phänomen „Brangelina“ liegen zudem auf der Hand.
„El Jockey“
„El Jockey“ von Luis Ortega um einen in Buenos Aires lebenden Pferdesportler, der nach einem schweren Unfall nicht mehr reiten kann, sich dann nach seinem Krankenhausaufenthalt versucht, neu zu finden: In Frauenkleidern macht er sich auf eine Reise zu sich selbst, die auch eine Form der Wiedergeburt bereithält. Dies ist keine dramatisch erzählte Geschichte, mit klarer psychologisch motivierter Figur, mit klaren Aussagen, es ist vielmehr ein sonderbarer Wettbewerbsfilm: Sonderbar, weil seine erzählte Geschichte in keinerlei Weise in Bezug steht zu den Bildern, die er zeigt. Sein Inhalt erschließt sich einem nicht direkt, erst recht nicht, wenn man ihn nicht in Verbindung setzt mit seiner Form: „El Jockey“ erzählt auch teils mit Rückgriff auf surrealistische Stilmittel von Lebensgefühl, Existenzsuche in ganz einladenden Bildern, die das Auge schweifen lassen. Sein ganzes Kraftfeld ist dabei sein Schauspieler: Nahuel Pérez Biscayart ist Buster Keaton wie aus dem Gesicht geschnitten, er spielt überwiegend ohne große mimische Ausdruckskraft, reglos die Gesichtszüge, slapstickartig die Gestik. Henri Bergsons „Automaten“ kommt einem in den Sinn.
„Babygirl“
Um Automatisierung geht es ansatzweise auch in „Babygirl“, denn die erfolgreiche Geschäftsfrau Romy, gespielt von Nicole Kidman, führt eine große Firma, die sich auf Künstliche Intelligenz und Robotisierung spezialisiert hat. Erst allmählich lässt die niederländische Regisseurin Halina Reijn dieses Themenfeld der Kontrolle und Überwachung mit der Handlung des Filmes zusammenfließen: Als Romy nämlich auf den deutlich jüngeren Intern der Firma Samuel (Harris Dickinson) trifft, beginnt sie eine rauschhafte Liebesaffäre mit ihm, die ihre devianten sexuellen Gelüste befriedigen soll: Romy steht auf harten BDSM-Sex, sie mag es, dominiert zu werden. Ihre Gelüste kann ihr Mann und devoter Familienvater (Antonio Banderas) nicht befriedigen – das Dreiecksverhältnis steht.
Kontrolle und Überwachung sind dabei zwei Mechanismen, die so den Blick freigeben auf das Hauptthema des Films: Es geht um Macht, um die Verlagerung von Macht, das Machtgefälle, in privaten Beziehungen, am Arbeitsplatz. Es ist ein stellenweise sehr düsterer Film, der seine Erotik mehr behauptet als spürbar werden lässt, der aber auch komödiantische und ironische Einlagen bereithält. Und es ist ein Film über Nicole Kidman: Die Schauspielerin, die auch immer wieder aufgrund ihres Körperbildes und der vielen künstlichen Eingriffe an diesem, die ihr Gesicht zur Komplettstarre zu lähmen drohen, im Interesse des Klatschblatts steht, feiert ihrerseits mit „Babygirl“ ein Comeback, das irgendwo auch Selbstbekenntnis ist: Die Schauspielerin und ihr Körper sind auf sehr ironische Weise reflexiv in den Film eingearbeitet. „Babygirl“ ist ein Film an den Schnittstellen zwischen Erotikthriller, dunkler Komödie, psychologischem Drama, das zwischen den Genres spielerisch oszilliert – in allen Fällen ist es ein Angriff auf die amerikanische Prüderie, die Vorstadt-Illusion, das Glück der Kernfamilie.
„The Order“
Ganz nach den Gesetzmäßigkeiten des Genrefilms ist „The Order“ von Justin Kurzel konzipiert. Kurzel kennt man für Filme wie „The True History of the Kelly Gang“ (2020) oder noch zuvor „Macbeth“ (2015). Basierend auf dem Sachbuch „The Silent Brotherhood“ von Kevin Flynn und Gary Gerhardt über die wahre Geschichte der gleichnamigen Terroristengruppe, die in den Achtzigerjahren die US-amerikanische Öffentlichkeit in Atem hielt, werden hier die Standardsituationen des Thrillers, der sich entlang des Gangster- und Polizeifilms orientiert, durchgespielt: Es gibt einen spektakulären Banküberfall, Verfolgungsjagden, Schießereien. Aber die Action wechselt mit Momenten der Fokussierung der Figuren.
Im Zentrum des Filmes steht vor allem ein Buch, das zu so etwas wie der Leitschrift rechtsextremer Kreise wurde: Es sind die „Turner’s Diaries“ des Amerikaners William L. Pierce, die er unter dem Pseudonym Andrew Macdonald veröffentlicht hatte. Der Film ist in dieser Hinsicht explizit: Die rechtsradikale Neonazi-Gruppierung, die in den 80er-Jahren den US-amerikanischen Staat umstürzen will, weil sie in der Migrationsfrage eine Bedrohung für die eigene Gesellschaft sieht und besonders die Juden als Problem sehen will, steht sehr direkt als Verweis auf die Gegenwart: Eine Texttafel am Ende des Films informiert über das berüchtigte Buch, das auch mit dem Sturm auf das Kapitol von 2021 in Verbindung gebracht wurde. Jude Law als unerbittlicher Fahnder liefert sich hier mit Nicholas Hoult als charismatischer Anführer der Terrorgruppe ein spannendes Duell, das auch von den Ähnlichkeiten in ihrem obsessiven Streben erzählt.
„The Room Next Door“
Ein Duell bietet auch „The Room Next Door“. Es ist ein Schauspielduell und es ist der 23. Spielfilm von Pedro Almodóvar, dem großen spanischen Filmemacher der Begierde, der Lust, der Leidenschaft. Diese Dimension seines Frühwerks, das man gerne als „wild“ und „rauschhaft“ bezeichnet hat, hat der Filmemacher nicht aufgegeben, er artikuliert es lediglich mit Bedacht und Wehmut aus der Rückschau. „Dolor y gloria“ war eine sehr besonnene Reflexion über die eigene Karriere in dem Antonio Banderas das Alter Ego Almodóvars gab, aber mehr noch war es dessen letzter Film, „Madres Parallelas“, der viele der von Almodóvar bekannten Motive zusammenbrachte, der den Finger auf eine immerzu klaffende Wunde legte: Zum ersten Mal wurde da die Franco-Diktatur in Spanien expressis verbis angesprochen, die in früheren Werken mehr Hintergrundfolie war. Dass der mittlerweile 74-jährige Almodóvar dieses kollektive Trauma Spaniens nun direkt adressiert und sich selbst als Künstler beschaut, macht augenscheinlich, dass Almodóvar eine neue altersbezogene Schaffensphase der Aufarbeitung eingeleitet hat.
Das ist auch in seinem neuen Film nicht anders: Es ist Almodóvars erster englischsprachiger Film, der ganz in den USA, in New York, spielt. Der Roman „What Are You Going Through“ von Sigrid Nunez, dem der Film zugrunde liegt, passt stofflich ganz in das Repertoire des Spaniers: Etwas, das lebt, sollte nicht enden, meint Ingrid. Es ist der erste Satz, den diese lebensfrohe Frau im Film spricht und diese Überzeugung soll auf die Probe gestellt werden, denn ihre Freundin Martha (Tilda Swinton) ist krebskrank und hat nicht mehr lange zu leben. Es ist aber Marthas Wunsch, dass ausgerechnet Ingrid ihr im Raum nebenan zur Seite stehen soll, während sie den Freitod durch illegale Substanzen wählt.
Der Film ist besonders ein Schauspiel-Duell, wie es in der Filmgeschichte Tradition hat, Ingmar Bergmans „Persona“ wird da zitiert, aber auch mit Blick auf die Frage von Tod und Wiederkehr „Vertigo“ von Alfred Hitchcock. Die Kontrolle über das eigene und das andere Leben zu behalten, bis zum Schluss, wird da wechselseitig als Motiv angeführt. Der Film kreist zunächst um die Themenfelder, die Almodóvar immer schon interessierten: Fragen der Mutterschaft, der Lust, der Liebe, der tiefen Verbundenheit – er verdichtet sie indes mit Blick auf den Tod, mit der Angst, dass einem keine Zeit mehr bleibt.
Dass gerade dieser so lebensbejahende Filmemacher, dessen Werk an Freizügigkeit, Sex und Leidenschaft, der Amour fou kaum zu überbieten ist, sich nun mit dem Abschied, der Trauer, der Angst vor dem Tod beschäftigt, ist zunächst erstaunlich, erscheint mithin aber nur folgerichtig. „The Room Next Door“ ist ein typischer Almodóvar-Film, alles ist da: die Themen, der unverwechselbare Stil, vor allem in den Farben, die Musik, einzig das Schauspiel dieser beiden Frauengrößen Moore-Swinton will niemals ganz zu sich kommen. Seltsam fühlt man sich an „Todos lo saben“ von Asghar Farhadi erinnert, der das spanische Schauspielpaar Penélope Cruz und Javier Bardem in einem Drama um Vergangenheit, Liebe, Schmerz und Vertrauen zusammenbrachte. In der Zusammenarbeit zwischen dem iranischen Regisseur und dem spanischen Duo muss in der Schauspielführung etwas verloren gegangen sein. Ähnliches möchte man hier in diesem spanisch-amerikanischen Dialog auch vermuten.
„The Brutalist“
Für viel Aufsehen sorgt am Lido dieses Jahr „The Brutalist“ des amerikanischen Regisseurs Brady Corbet. Der Name dieses Regisseurs mag einem luxemburgischen Publikum vielleicht nicht so präsent sein: Sein zweiter Film, „Vox Lux“ von 2018, wurde schnell aus dem Programm genommen. Man möchte seinem neuen Film ein besseres Schicksal wünschen. „The Brutalist“ handelt von László Tóth, gespielt von Adrien Brody, dem bedeutenden ungarischen Architekten, der die Stilrichtung des Brutalismus maßgeblich beeinflusste. Mit seiner fast vierstündigen Laufzeit wird hier das klassische „From rags to riches“-Narrativ einmal mehr als eine große Americana aus Ruhm, Absturz, Aufstieg, Genie, Trauma und Neid ausgiebig erzählt.
Darum geht es: László Tóth hat in Ungarn den Holocaust überlebt, er wandert in die Vereinigten Staaten aus, um dort den amerikanischen Traum zu leben. Seine Frau Erzsébet (Felicity Jones) wird ihm bald folgen. Tóth wird ihn leben, den Traum, und auch nicht. Das macht die Anfangsszene des Filmes unmissverständlich klar: Aus der Rückenansicht folgen wir diesem Mann, wie er aus dem Innern eines Schiffes nach oben steigt und die Freiheitsstatue erblickt. Da tritt jemand aus dem Schatten ins Licht, um die Freiheit zu finden. Oder doch nicht. Die Freiheitsstatue steht kopf, mittels Kippbewegung der Kamera ist das Trügerische dieses Traums bereits artikuliert. Corbet baut entsprechende Formspiele virtuos in seinen Film ein, eine doppeldeutige Qualität ist ihnen immerzu eingeschrieben – ohne aber die Klassizität seiner Mise-en-scène Abbruch zu tun, es sind vielmehr in die Form eingeschriebene Verweise, die davon berichten, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nie voneinander zu trennen sind.
Über Umwege gelangt Tóth zu dem Tycoon van Buren (Guy Pearce), der ihm der Mäzen wird. Er nimmt den zunächst im Bau hart schuftenden Tóth auf, erkennt sein Talent und will es eigennützig fördern: Ein großes Bauprojekt soll bevorstehen, dessen genaue Bedeutung und Dimension nie wirklich ausgeführt werden. Das will Corbet gar nicht, er will vielmehr zeigen, dass die traumatische Vergangenheit Tóths als Jude im KZ ihn niemals loslässt, sich seinen Weg in die Kunst freilich suchen wird, aber auch aus dieser nie wirklich erklärlich wird. Ein Steinblock ist ein Steinblock, heißt es an einer Stelle. Auch Corbet stellt wie Larraín in „Maria“ die Frage: Ist einem Künstler, ist dem Menschen hinter der Kunst über den Weg seiner Kunst wirklich beizukommen?
Wunderkind Corbet
Und wenn einem all das nun als ein großes Biopic vorkommt und man mit dem Namen László Tóth doch nicht wirklich etwas anzufangen weiß, eigentlich noch nie von ihm gehört hat, dann deshalb, weil es ihn gar nicht gibt. Corbet erfindet mit sehr viel Aufwand eine falsche Biografie, die sich indes sehr wahrheitsgetreu präsentiert. In diesem radikalen Fake-Ansatz dekonstruiert er das Genre des Biopics nochmals auf einer ganz anderen Ebene als Pablo Larraín mit „Maria“. Adrien Brody als KZ-Überlebender ist selbstredend ein Verweis auf seine Rolle in Roman Polanskis „Der Pianist“ (2002).
So wie sich Bezüge herstellen lassen zwischen den Schauspielerinnen und ihren jeweiligen Rollenbildern in „Maria“ und „Babygirl“, bestehen in „The Brutalist“ Parallelen zwischen der Hauptfigur und dem 36-jährigen Regisseur Corbet. Tóth ist ein aufstrebender Mensch, der zwar immer wieder seine alten Traumata durchlebt und – in einer der drastischsten Szenen des Films – auch neue erfahren muss, doch ist sein Weg zu Ruhm und Anerkennung vorgegeben. Eine Geschichte, die an seinen Schöpfer Corbet erinnert: Mit gerade einmal seinem dritten Film setzt sich der Regiekünstler ein Denkmal, ein großes Epos, das am Lido immer wieder mit Sergio Leones „Once Upon A Time in America“ verglichen wird. Auf 70 Millimeter gefilmt, und mit einer 15-minütigen „Intermission“, gibt sich Corbet zudem als ein Purist des Kinos zu erkennen, der Status des neuen Wunderkindes ist ihm bereits mit nur drei Filmen zu eigen.
Groß in der Inszenierung, episch in der Laufzeit und eindringlich in den Schauspielleistungen wird dieser Film momentan übrigens als der Favorit auf den Goldenen Löwen gehandelt. Ob „The Brutalist“ am Ende ausgezeichnet wird, sei dahin gestellt – den Namen Brady Corbet sollte man sich jedenfalls merken.
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