Bayreuther Festspiele 2024 (2/2) / Von missbrauchten und traumatisierten Kindern: Der „Ring des Nibelungen“ und „Der Fliegende Holländer“
Was ist ein Mythos? Diese Frage muss man sich unweigerlich stellen, wenn man sich mit dem Werk Richard Wagners, insbesondere dem Ring des Nibelungen, auseinandersetzt. Ein Mythos ist eine Erzählung, bei dem es um das Handeln von Göttern und Helden geht. Also ein Stoff aus einer vorgeschichtlichen Zeit, in dem sich die Weltdeutung der Menschen ausdrückt. Zudem erhebt der Mythos einen Anspruch auf Geltung für die von ihm behauptete Wahrheit und ist demnach in allen Zeiten gültig.
Natürlich glaubt heute keiner mehr an Zaubertränke, Zwerge, Götter und Drachen. Alle diese Symbole, die im Mythos auftreten, müssen von den Regisseuren unserer Zeit neu gedeutet und in eine uns verständliche Gegenwart transportiert werden. Es gibt natürlich sehr viele verschiedene Möglichkeiten, Valentin Schwarz hat sich für die Form der Familien-Saga entschieden. Wotan und sein Clan gehören der Upper Class an und sind demnach selbsternannte Götter. Schwarz bezieht sich auf Film- und Fernsehserien und knüpft mit seiner Inszenierung direkt an den Paten, an Dallas oder Denver-Clan an. Der Ring, und das ist Schwarz’ ganz persönliche Deutung, sind die Kinder. Und diese Kinder werden missbraucht, traumatisiert und manipuliert, um das Familienerbe weiterzugeben. Bei Schwarz sind Alberich und Wotan Zwillingsbrüder, die sich im Mutterleib bereits gegenseitig schwere Verletzungen zufügen. Wotan verliert sein Auge, Alberich wird impotent.
Der Ring als blutige Familien-Saga
Aus diesem Urzwist heraus deutet Schwarz den Ring komplett neu, bleibt aber, wenn man ganz genau hinschaut, sehr nahe an Wagners Werk, obwohl der Regisseur neue Figuren hinzuerfindet. Das bleibt an sich alles recht konsequent und nachvollziehbar. Schwieriger wird es allerdings bei der Übersetzung der archetypischen Symbole wie Tarnkappe, Schwert oder Zaubertrank, wo sich Schwarz oft in Details verliert oder einfach unlogische und manchmal unpassende Lösungen findet. Nichtsdestotrotz wurde die diesjährige Premiere bei den Bayreuther Festspielen zu einem großen Theatermoment, der natürlich mit vielen Buhs am Ende der Götterdämmerung regelrecht niedergemacht wurde. Das war nicht berechtigt. Eine Inszenierung kann gefallen oder auch nicht, wenn das Konzept und die Analyse aber stimmen, ist dem Regisseur nichts vorzuwerfen. Und Valentin Schwarz leistet bei diesem Ring mehr als nur ordentliche Arbeit.
Simone Young und ihr Traum-Team
Musikalisch sind die vier Opernabende ein Genuss. Dem Bayreuther Festival ist es gelungen, eine Besetzung ohne Fehl und Tadel zusammenzustellen, bei denen die wichtigen Rollen alle optimal besetzt sind. Tomasz Konieczny ist ein überragender Wotan, der an Ausdruck und Gestaltung nicht zu toppen ist, auch wenn er manchmal etwas frei mit der Musik umgeht. Ein Glücksfall ist die Brünnhilde von Catherine Foster, die die glücklose Irene Theorin aus dem Jahr2022 ersetzt. Foster singt diese Rolle schon seit 2013 auf der Bayreuther Bühne und besticht durch ihre intensive Darstellung und ihre schöne, immer leuchtende Stimme. Ihr zur Seite steht Publikumsliebling Klaus Florian Vogt als Siegfried. Er gestaltet die beiden Abende mit nie nachlassender Präzision und Stimmschönheit. Keine falsche Note, kein Forcieren, die Stimme schön, hell und flexibel, so wie man es von ihm seit vielen Jahren gewohnt ist. Kein Zweifel. Vogts Siegfried ist ein Wunder. Der Siegmund wird in diesem Jahr von Michael Spyres gesungen, dessen baritonaler Tenor exakt den Anforderungen entspricht, die für diese Rolle gestellt sind. Ein schönes Legato, ausdrucksstarker Gesang und eine perfekte Phrasierung machen aus ihm eine Idealbesetzung, vorausgestezt, man mag dieses dunkle Timbre für diese Rolle. Genauso die junge litauische Sopranistin Vida Miknevicute, deren leuchtender Sopran an die grandiose Sieglinde der Nadine Secunde im Kupfer-Ring Ende der achtziger Jahre erinnert. Seither hat man hier keine so gute, jugendliche Sieglinde mehr gehört. Olafur Sigurdarson ist der umjubelte Alberich dieses Rings. Sein flexibler und kraftvoller Bariton sowie seine intensive Gestaltung machen aus ihm einen Idealinterpreten für diese Rolle.
Und es geht hochkarätig weiter: Georg Zeppenfeld als Hunding, John Daszak als Loge, Mirko Roschkowski als Froh, Christa Mayer als Fricka und Waltraute, Mika Kares als Hagen, Ya-Chung Huang als Mime, Okka von der Damerau als Erda, Nicolas Brownlee als phänomenaler Donner, Christina Nilsson als Freia, Gabriela Scherer als Gutrune, Michael Kupfer-Radecky als Gunther, Jens-Erik Assbo als Fasolt und Tobias Kehrer als Fafner, sie alle machen diesen Ring zu einen gesanglichen Fest. Die Krone gehört aber meines Erachtens der Dirigentin Simone Young, die erstmals in Bayreuth dirigiert, hier allerdings schon Daniel Barenboim assistiert hat. Young ist eine geborene Wagner-Dirigentin und das Publikum erlebte an den vier Abenden ein Orchesterspiel, wie es besser, spannender und schöner nicht sein kann. Young ist den Sängern eine ideale und hellhörige Begleiterin und trägt ihr Team wirklich auf Händen.
Die Rache des H.
Auch beim Fliegenden Holländer steht ein Kindheitstrauma im Mittelpunkt. Der kleine H. musste den Selbstmord seiner Mutter, der damaligen Geliebten von Daland, miterleben, nachdem die Mutter von Daland, der Kirche und den Bewohnern der Kleinstadt geächtet wurde. Als Fliegender Holländer kehrt der erwachsene H. zurück, um grausame Rache zu nehmen. Regisseurs Dmitri Tcherniakows Inszenierung hat auch im vierten Jahr auf der Bayreuther Bühne nichts von ihrem Reiz eingebüßt. Und wenn einem Sänger wie Michael Volle (der wegen einer Knieverletzung mit Krücke auftritt) als Holländer, Elisabeth Teige als pubertierende Senta und Georg Zeppenfeld als Daland zur Verfügung stehen, dann ist ein großartig-intensiver Opernabend garantiert, zumal auch noch Oksana Lyniv am Pult des glänzend disponierten Festspielorchesters steht und der Musik so richtig Dampf macht. Eric Cutler singt einen ordentlichen Erik, dem hochgewachsenen Hünen mit der großen Stimme nimmt man aber den schwächlichen Charakter des Jägerburschen nicht so richtig ab. Schwach dagegen Nadine Weissmann als Hausmütterchen Mary und biedere Ehefrau Dalands, deren Mezzospran an keiner Stelle zu leuchten vermag und deren Stimme ziemlich verbraucht und hohl klingt. Der lyrische Tenor von Matthew Newlin als Steuermann ist dagegen ein Gewinn für diese kurzweilige und beim Publikum sehr beliebten Produktion.
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