Booker Prize / „Wanting is man’s natural state“: „The New Wilderness“ von Diane Cook
Diane Cooks Romandebüt ist ein verstörendes, poetisches, postapokalyptisches Werk über eine Gruppe von Menschen, die sich im letzten Naturschutzgebiet der Erde zusammentun, um einer verseuchten Stadt zu entkommen. „The New Wilderness“ ist das ökologische, ergreifende Pendant zu William Goldings „Lord of the Flies“ und Yorgos Lanthimos’ „The Lobster“.
Weil die Luft in der überbevölkerten Stadt so unrein ist, dass ihre Tochter Agnes schwer erkrankt, willigt Bea ein, Teil der Studie von Lebenspartner Glen zu werden: Eine Gruppe von 20 Menschen darf die verseuchte, überbevölkerte Stadt verlassen, um nach strengen Regeln in der letzten Wildnis zu überleben. Bei diesen Menschen handelt es sich keineswegs um umweltbesessene Naturliebhaber, mutige Pioniere oder zivilisationsmüde Hippies wie etwa Jesse Hirschs Christopher McCandless in „Into the Wild“: „They went to the Wilderness State because there was no other place they could go. They had wanted to flee the City, where the air was poison to the children, the streets were crowded, filthy, where rows of high-rises sprawled to the horizon and below.“
Um diesen „Wilderness State“, das letzte erhaltene Naturschutzgebiet, vor der Zerstörung durch Menschenhand zu schützen, verpflichtet sich die Gemeinschaft, ihren ökologischen Fußabdruck so gering wie möglich zu halten – sobald die menschlichen Störenfriede zu lange auf einem Platz verweilen, zu viele Spuren oder Müll hinterlassen, wird dies von patrouillierenden Rangers notiert und die Gruppe bestraft. Ein solches Regelwerk, das in einem Manual – halb Bibel, halb Bedienungsanleitung – festgelegt wurde, ist daher notwendig, weil in Cooks postapokalyptischer Welt bereits jeder andere Landfleck für menschliche Zwecke genutzt wird: In einem kurzen Absatz erwähnt die figurale Erzählerin die „Treibhausstädte“, die „Windmühlenozeane“, die sich ausweitenden Mülldeponien, die Serverfarmen und privatisierten Waldparzellen – die Menschheit hat den Planeten so weit kolonisiert, dass sie ihr eigenes Habitat zugepflastert und erstickt hat.
Diane Cooks Romandebüt beginnt mit der Schilderung einer Totgeburt nicht nur in medias res, sondern auch auf eine verstörende Art: Hauptfigur Bea ist sich vollkommen dessen bewusst, dass ihre totgeborene Tochter Madeline ein Amuse-Gueule für die umherschleichenden Kojoten sein wird. Dies ist nicht der erste Verlust, den die Gemeinschaft erleben muss: Bereits vor dem eigentlichen Beginn des Romans ist die Community durch tödliche Stürze oder Wildtierattacken dezimiert worden, wenige Seiten nach Madelines Tod wird Caroline bei einem Flussüberquerungsversuch von einem Baumstamm getroffen und treibt leblos davon. Das hier ist nicht bloß darwinistisches Survival of the fittest, oftmals entscheidet pure Willkür, wer überlebt und wer nicht.
Überleben ist Zufall
Der Leser erlebt dabei das fiktionale Geschehen erst aus dem Blickwinkel von Mutter Bea, dann aus der Sicht der jungen Tochter Agnes. Die Ausgangssituation von „The New Wilderness“ erinnert an Klassiker wie „Lord of the Flies“ von William Golding und lässt einen an die philosophische Debatte zwischen Rousseau-Anhängern – der Mensch ist von Natur aus gut, es ist die Zivilisation, die ihn verdirbt – und den weniger naiven Hobbes-Verteidigern – es gibt keinen bon sauvage, im Naturzustand bildet der Mensch schnell Interessengemeinschaften, um gemeinsame Feinde zu überwältigen – denken. Was aber bei Rousseau, Hobbes und Darwin reine Theorie bleibt, wird hier mithilfe fiktionaler Erfahrung inszeniert.
„When they first arrived in the Wilderness, they imagined living there might make them more sympathetic, better, more attuned people. But they came to understand there’s been a great misunderstanding about what better meant. It’s possible it simply meant better at being human, and left the definition of the word human up for interpretation.“ Cook stellt die Frage nach der Essenz des menschlichen Wesens inmitten einer wilden Umgebung und lotet in ihrer Fiktion aus, bis zu welchem Grad moralisches Handeln nur ein zivilisatorischer Luxus ist, den man sich leisten können muss.
Damit hebt sich „The New Wilderness“ von üblichen Überlebensfiktionen ab. Diane Cook nutzt die Ausgangssituation nicht nur, um einen ergreifenden Roman zu schreiben, den man trotz der dichten, poetischen Naturbeschreibungen kaum aus der Hand legen kann, sondern veranschaulicht zudem den mühsamen Aufbau und das langsame Zerbröckeln demokratischen Benehmens. In dieser überschaubaren Gemeinschaft werden zivilisatorische Prozesse analysiert und auf die Probe gestellt, das geschlossene System, das diese 20 Menschen mühsam konstruiert haben, wird immer wieder aufgebrochen – von außen, aber auch von innen.
Der Bully ist König
So hat sich die Gemeinschaft zwar vorgenommen, keinen Leader zu ernennen und alle Entscheidungen unter der Bedingung eines strengen Konsenses zu treffen, ganz nach Plan wird dieses Vorgehen allerdings nicht verlaufen: Eine tugendhafte, zurückhaltende und intelligente Person wie Lebenspartner und Adoptivvater Glen stellt nicht nur fest, dass er dieses von ihm so verklärte Leben in der Wildnis in der Praxis relativ schlecht meistert, sondern muss sich an der Person des dominanten Carl messen, wobei Carl in Beas Sicht „a child, a bully, dim in everything except survival“ ist – und doch ist er hier der König, „because survival was king“.
Die Charakterzeichnung ist beeindruckend: Inmitten der Verrohung der zwischenmenschlichen Verhältnisse – pragmatische Gleichgültigkeit ist halt wichtiger als Empathie, wenn es ums blanke Überleben geht – ist die zwiespältige Beziehung zwischen Mutter Bea und Tochter Agnes umso ergreifender, weil der Leser durch den Perspektivenwechsel Verständnis für beide aufweisen kann und so die angespannte, jedoch im Kern sehr schöne Verbindung zwischen den beiden sehr real wirkt und die Figuren zugleich ihre Schattenseiten behalten. So entgegnet Bea ihrer Tochter nach einem Streit: „Of course you hate me. I’m your mother.“ Agnes hingegen fragt sich „why (…) her mother insist(ed) on being so many people at once when Agnes only needed her to be the one“.
Besonders geschickt ist zudem der fiktionale Weltenbau: Während die Gemeinschaft durch die Wildnis stapft, erfährt sie am Rande von dem Zerbröckeln der Zivilisation und der Verschlimmerung der Überlebensbedingungen in der Stadt. Wie in Kazuo Ishiguros „Never Let Me Go“ wird eine an sich riesige, unbekannte Fiktionswelt aus der Perspektive einer kleinen Randgruppe beleuchtet, weshalb man sich stets fragt, wie viel von dem, was die Gemeinschaft in Erzählungen und Gerüchten erfährt, der Wahrheit entspricht.
In dieser epistemischen Grauzone schleichen sich Wunschvorstellungen ein – so wie Ishiguros Klone in „Never Let Me Go“ oder das Ehepaar in „The Buried Giant“ bastelt sich die Gemeinschaft aus den paar Informationsklötzen eine Scheinwelt zusammen, die oftmals ihren intimsten Wünschen entspricht.
Immer wieder tauchen dabei die sogenannten Private Lands auf – neben der unerbittlichen Wildnis und der verschmutzten, kaputten Stadt ein paradiesischer Rückzugsort, von dem niemand so recht weiß, ob er wirklich existiert. Wie in Ishiguros Romanen fragt sich der Leser, wie groß die Diskrepanz zwischen endogener Vorstellung und exogener Realität ist – wie viel Selbstbetrug solche Gedanken beinhalten, und wie viel Selbstbetrug wesentlich für den Selbsterhalt ist.
Da, wo die gesellschaftliche Spaltung zwischen Stadt und Wildnis und die Erfindung neuer sozialer Rituale an eine postapokalyptische Version von Regisseur Yorgos Lanthimos’ „The Lobster“ erinnern, lässt einen die Frage nach der Relevanz kollektiven Selbstbetrugs im Kampf ums Überleben immer wieder an Ishiguros Fantasy-Roman „The Buried Giant“ denken. Dabei gelingt es Diane Cook, im Herzen der Dunkelheit, wenn ein unerbittlicher Sturm sich entfernt, „wagging its tail goodbye“, oder wenn sie die Balladen erwähnt, die sich die Überlebenden abends beim Lagerfeuer erzählen, Momente ergreifender Schönheit einzufangen.
Info
Diane Cook, „The New Wilderness“, Oneworld Publications 2020, 395 Seiten.
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