/ Wasserschlachten und Marlon Brando: „Every Brilliant Thing“ von der Volleksbühn befasst sich mit Depressionen
Um seiner depressiven Mutter zu zeigen, wie lebenswert das Leben doch sein kann, beginnt ihr Sohn, eine Liste mit allen schönen Dingen, denen er im Alltag begegnet, zu führen. Die zweite Produktion der im April 2018 gegründeten Volleksbühn findet in einem leerstehenden Haus auf Cents statt und bindet den Zuschauer gekonnt in ein ergreifendes Theaterstück über Depression und Suizid ein.
In „Der Mythos des Sisyphos“ schrieb Albert Camus: „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt, auf die Grundfrage der Philosophie antworten.“
Die Mutter der Hauptfigur von „Every Brilliant Thing“ scheint die Antwort auf diese Grundfrage gefunden zu haben – und konfrontiert ihren Sohn, als er gerade mal sieben Jahre alt ist, mit ihrem ersten Selbstmordversuch.
Normalerweise ist es die Mutter, die ihn abholen kommt. Als sein Vater eines Tages mit Verspätung vor der Schule auftaucht, stellt das junge Alter Ego der Erzählfigur fest, dass sein bisher eher gewöhnliches Leben am Punkt ist, zu entgleisen. Um seiner depressiven Mutter zu zeigen, dass das Leben dennoch lebenswert ist, beginnt er, eine Liste zu führen, die all das Schöne im Leben aufzählen soll.
Jahre später, nachdem die Mutter sich das Leben genommen hat und der Erzähler sich zu fragen beginnt, ob die psychische Krankheit seiner Mutter nicht doch genetisch vererbbar ist, steht die namenlose Erzählfigur, grandios gespielt von Isaac Bush, im heruntergekommenen Elternhaus und beschwört die Geister ihrer Vergangenheit herauf.
Eine Schaufensterpuppe mit Perücke und Schlafrock stellt die Mutterfigur dar – irgendwann zerlegt Bush diese Puppe, als wolle er den Mechanismen der Depression in einer metaphorischen Autopsie auf den Grund gehen, als wolle er zeigen, wie die Depression seine Mutter zu einer bröckelnden, fragmentierten Person entstellt hat, als wolle er in einem kathartischen Moment sein gescheitertes Leben in einem Zerstörungsakt auf der Bühne zelebrieren.
Literatur statt Antidepressiva
Dabei wird die Liste zum ständigen Begleiter seiner Biografie, sie wird zentrales, strukturierendes Element der Erzählung und nimmt im Laufe der Lebensetappen der Figur – die Pubertät, das Studium, die erste große Liebe und das schwierige Erwachsenwerden – stets eine andere Funktion an.
Mal ist sie ein wichtiger Halt, mal belächelt Bush die Naivität seines Projekts – als könne eine banale Liste eine schwere Depression kurieren –, mal verzweifelt er an genau dieser Diskrepanz zwischen dem Wohlwollen des Sohnes und der Erkrankung der Mutter, verdeutlicht sie doch seine Machtlosigkeit.
Ergreifend und „schrecklich amüsant“ erzählt die Hauptfigur von ihrer ersten Erfahrung mit dem Tod – Familienhund Sherlock Bones wird vom Tierarzt eingeschläfert –, von einem Uni-Seminar über Goethes „Leiden des jungen Werthers“, das damals bekanntlich Selbstmordwellen ausgelöst hat, von der Ansteckungsgefahr, die von der sensationsgierigen medialen Berichterstattung über Suizid ausgeht. Im Endeffekt gesteht er, Goethes Klassiker gelesen zu haben, sei überflüssig gewesen – „it was shit“.
Interaktivität
Die Schwachpunkte des Textes – die Konsensfähigkeit einer solchen „Dramedy“, deren Stimmungen oftmals zu binär zwischen „Feel-good“-Momenten und Taschentuchzücken aufgeteilt sind, die Anleihen an Amélie Poulain oder den französischen Autor Philippe Delerm, dessen Literatur seit „La première gorgée de bière“ auch die „kleinen“ Freuden des Lebens besingt und die, falsch dosiert, sehr schnell zu einer verklärt-kitschigen Weltsicht führen kann – werden konsequent durch das Ausloten des „Bühnenraums“ und der Interaktivität mit dem Publikum ausgehebelt.
So werden die Zuschauer im Laufe von Bushs Erzählung zu den lebendigen Requisiten seiner Vergangenheitsbeschwörung – seine große Liebe Sam, der Tierarzt, der Vater und die Uniprofessorin werden allesamt von Zuschauern verkörpert, Bush gibt die notwendigen szenischen (Regie-)Anweisungen.
Taktvoll improvisiert Bush neckische Kommentare über die bescheidene Bühnenpräsenz und -kompetenzen der Laiendarsteller. Zu Beginn bekommt jeder von Bush einen Zettel ausgeteilt, auf dem ein Eintrag der Liste fungiert („Marlon Brando“, „Piglets“ oder „Track 7 on every great record“) und das auf Aufforderung des Schauspielers vom jeweiligen Zuschauer vorgetragen werden soll.
Außerdem wird die Innenarchitektur des Hauses ausgelotet, um Kindheitserinnerungen auch eine klangliche, räumliche Nostalgie zu verleihen. Hier passt die Kulisse wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, das Spiel mit lebendigen und verstaubten Requisiten lässt eine Dynamik entstehen, die in einer klassischeren Theaterkonfiguration kaum möglich gewesen wäre.
Kulturelles Tabu
Themen wie Selbstmord und Depression werden in der Literatur speziell angesichts der hohen Anzahl depressiver Künstler, die sich das Leben nahmen, eher selten behandelt. Werke wie Styrons „Darkness Visible“ oder Thomas Melles „Die Welt im Rücken“ behandeln die Depression ihrer Autoren, im Gesamtwerk von David Foster Wallace, der sich 2008 das Leben nahm, ist die Depression eines der wiederkehrenden Hauptthemen.
Trotzdem bleiben solche Themen kulturelle Tabus, der Kulturkonsument fürchtet vielleicht die im Stück auch angesprochene Ansteckungsgefahr, die auf einer platonischen Auffassung der Fiktion basiert (die Bühnengeschehnisse würden zur Nachahmung anreizen).
In Max Claessens rezenter Adaptierung von Thomas Melles „Versetzung“ wurde das Thema vor kurzem im Kapuzinertheater aufgegriffen, die Stärken von „Every Brilliant Thing“ liegen darin, dass das Stück trotz des dunklen Themas die humoristischen Passagen nicht scheut, auch wenn es pädagogische Momente nicht ganz meidet: „Wer ein langes Leben geführt hat und dabei keine Momente schwerer Depression erlebt hat, hat einfach nicht sehr gut aufgepasst.“ Das mag tröstlich klingen, ist aber nicht sonderlich subtil.
Erzählerische Beschleunigung gegen Ende
Gegen Ende verliert das Stück trotz (oder gerade wegen) des angezogenen Rhythmus an Dringlichkeit. Die letzten Episoden – Isaac Bush stellt Sam seinen Eltern vor, das Paar heiratet und muss sich den üblichen Streitereien, die das Paar- und Erwachsenenleben erschweren, stellen – werden in Windeseile erzählt, so dass dem Zuschauer eine empathische Identifizierung etwas erschwert wird.
Es ist der präzisen Regie von Sally Merres zu verdanken, dass man spürt, wie diese erzählerische Beschleunigung vor allem der progressiven Selbstentfremdung der Hauptfigur Ausdruck verleiht: Die erlebten Episoden werden weniger dringlich, weil Bushs Figur sie weniger intensiv erlebt. Vielleicht verlieren die tollen Regieeinfälle gen Ende an Brillanz, weil sie nach 80 Minuten etwas redundant wirken – dies ist jedoch nur ein kleiner Wermutstropfen.
Nomadische Volksbühne
Die „Volleksbühn“ – gegründet im April 2018, nachdem es auf der Berliner Volksbühne mit dem Abgang von Castorf (2017) und der Intendanz von Chris Dercon, der nach einem Jahr bereits das Handtuch schmiss, kriselte – postuliert in ihrer programmatisch-humorvollen Gründungsschrift, Theater könne auch Spaß machen.
Zwischen langatmiger Avantgarde oder bierernsten Produktionen, die sich oftmals bei Romanvorlagen und angestaubten Klassikern bedienen und dem niveaulosen Klamauk, der von einem Hoppen Théid oder der Revue geboten wird, ist definitiv Platz für dieses zwar sehr zugängliche (und damit manchmal etwas offensichtliche), dafür aber ergreifende Theater, das mehr über unsere zeitgenössischen Existenzen aussagt als so manche Großproduktion der städtischen Theaterhäuser.
Nach „En Haus wéi en Haus“ ist „Every Brilliant Thing“ zudem bereits das zweite Theaterstück dieser noch jungen Spielzeit, das ein leerstehendes Haus in einem bürgerlichen Viertel bespielt. Die Adaptation des Textes der Servais-Preisträgerin Elise Schmit fand auf dem Limpertsberg statt, das bespielte Haus wird verkauft und zukünftig wahrscheinlich von Immobilienhaien in kleinere Appartements zerlegt.
Auf der Garagentür der Centser Luxusbude mit Pool (1) liest man, dass die Stadt Luxemburg den Abriss des Hauses genehmigt hat. Neben Maskénada hat sich nun eine zweite Truppe für ein nomadisches Theater entschieden, das sich in den Schauplätzen der Luxemburger Wohlstandsgesellschaft niederlässt, um in den Häusern, die den vorhersehbaren Wandlungen zum Opfer fallen, einen letzten spannenden Akt zu inszenieren.
(1) Der Poolbereich war Teil des Bühnenbildes, im leeren Schwimmbecken lag ein riesiges Gemälde von Julien Hübsch, das in Blaustichen beleuchtet wurde. Jedes Mal, wenn eine von bedrohlich wabernden Synthies begleitete Off-Voice Bushs inneren Monolog fortführte, wurde dieser abgelegene Bühnenteil zum Hauptschauplatz.
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