Theater / Wenn ich der Erste bin, wirst du der Letzte sein?“: „Superspreader“ von Albert Ostermaier im TNL
In „Superspreader“ wird der weltenbummelnde Unternehmensberater Marcel zum Infektionsherd und identifiziert sich immer stärker mit dem Virus. In seinem Monolog verzahnt Albert Ostermaier Kapitalismuskritik und Pandemie-Paranoia und verleiht einer an sich ausgelaugten Metapher – der Kapitalismus als Virus – neue Bedeutungsebenen.
„Ich bin ein Spezialist für schlechte Nachrichten. Mein Beruf ist, aus Katastrophen Profit zu ziehen.“ Unternehmensberater Marcel lebt von Notfällen: Er grassiert gerade dort, wo ein Betrieb in der Krise ist. Falls es einem Unternehmen wirtschaftlich zu gut geht, muss er eben nachhelfen: „Ich rede sie krank, damit ich sie gesund machen kann.“ Da kommt es ihm recht, dass der Kapitalismus „nicht eine Krankheit“, sondern „DIE Krankheit“ ist.
Marcel sieht sich als „Mitarbeiterproduktivitätssteigerungsmotor“ – er hat nicht nur die Ideologie und die Wandelbarkeit („ein Virus verändert ständig sein Gesicht, wie ich“) des späten Kapitalismus, sondern auch dessen hässlichen, oft doppelbödigen Fachjargon verinnerlicht.
Der hyperaktive Marcel soll für Zufriedenheit im Unternehmensalltag sorgen. Aber „Zufriedenheit heißt maximale Selbstausbeutung bei maximaler Blindheit für die eigene Lage“, wird auf Betriebsebene durch Identifikation mit dem Unternehmen gewährleistet – und manifestiert sich durch Depression, Essstörungen und Stressabbau beim Yoga. Er verspricht den Angestellten, dass er sie ganz groß raus bringt – raus vor die Tür, auf die Straße. „Aber das erfahren sie erst, wenn ich längst auf der anderen Seite der Erde bin.“ „Ich hinterließ meine Handschrift in den Unternehmen. Doch ich war das Löschpapier“, schlussfolgert er die bitterböse Passage über seine perfide Rolle im Firmenalltag.
Der Verwandlungskünstler
Ostermaiers Text begnügt sich aber nicht damit, ein schonungsloses Porträt des späten Kapitalismus zu skizzieren, in dem Yogakurse die (kostenpflichtige) Kehrseite einer Welt sind, in der Überarbeitung und Ausbeutung zum Tagesgeschäft gehören. Denn schnell wird deutlich: Weder der Kulturschaffende noch der unachtsame Kneipenbesucher sind die Virenschleuder – der titelgebende Superspreader ist derjenige, der die Welle des globalen Neoliberalismus am intensivsten reitet.
Ohne gängigen Klischees zu verfallen, legt Ostermaier die ganz reale Verzahnung zwischen dem späten Kapitalismus und der Pandemie offen. Nachdem er symptomlos, aber infiziert, im Flugzeug, seinem wahren Zuhause, um die Welt fliegt und dem Virus so über die Ländergrenzen verhilft, sieht Marcel nicht nur zahlreiche konkrete Parallelen zwischen seinem Job und dem Virus („Ich flog zu den Unternehmen wie ein Retter, aber ich war die Pest“): In einigen der stärksten Passagen wird der Berater zum Virus. In der durchlässigen Metaphorik des Textes steht das Virus für ein krankes System – und umgekehrt.
Im Laufe der Pandemie begann man irgendwann zu befürchten, dass es in den Theaterstücken, den Büchern und Filmen der Zukunft nur noch um dieses verdammte Virus gehen wird, das seit fast einem Jahr den Löwenteil aller Alltagsgespräche und (zurzeit nicht existierenden) Diskussionen am Tresen ausmacht.
„Superspreader“ ist sehr wohl, aber eben nicht nur ein Pandemietext: Der Wortwitz, die tollen, mit Stilfiguren gespickten One-Liner (siehe die folgende Syllepse: „Die Welt liegt in meinem Rachen. Mein Rachen ist meine Rache“) und die Schwatzsucht dieses mitteilungsbedürftigen, erzählsüchtigen Beraters, der nicht nur die eigene traumatische Kindheit („Meine Mutter und mein Vater hassten sich, aber nicht so sehr, wie sie mich hassten“), sondern auch Themengebiete wie Tourismus in exotischen Ländern, die Ausbeutung infizierter „Schlachtersklaven“ oder die illusorische Gleichstellung aller Existenzen durch das Virus mit bitterbösem, pointiertem Humor beschreibt, ergeben ein gleichermaßen individuiertes wie auch universales Porträt des Alltags im späten Kapitalismus. Ostermaier zeigt, wie die unter dem Kapitalismus bereits begonnene Entfremdung einen traurigen und fast logischen Höhepunkt in der Pandemie findet – als hätte die von Marc Fischer als „kapitalistischen Realismus“ getaufte Spätphase des Neoliberalismus das Terrain für das Virus vorbereitet.
Reichtum ist (k)eine Impfung
Peter Lohmeyer, dessen Zeichnungen nicht nur die Textfassung begleiten, sondern auch ein Eigenleben auf der Bühne entfalten, verkörpert den „Verwandlungskünstler“ Marcel während einer intensiven, beeindruckenden Performance. Rafael Sanchez’ Regie kommt ohne große Effekte aus: Sie steht ganz im Interesse des starken Textes und der ebenso starken schauspielerischen Leistung, deren Qualität Sanchez durch subtile Einfälle betont: So wird die Anpassungsfähigkeit der Figur nicht nur durch den unterschiedlichen Look – Marcel wechselt vom Asi mit Deutschland-Trainingsjacke über den Zen-Meister im Bademantel bis hin zum finalen, eleganten Berater im Sakko –, sondern auch durch die verschiedenen Selbstporträts, die er an die Mauer zeichnet, verdeutlicht. Da man sich im Theater nachweislich nicht ansteckt, sollte man sich diesen „Superspreader“ im TNL nicht entgehen lassen.
„Superspreader“ läuft noch heute Abend um 20.00 Uhr im TNL
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