Bildung / Wessen Literatur wir hochschätzen – und warum wir in der Schule so wenige Bücher von Frauen lesen
Literatur, die von Frauen geschrieben wurde, wird in Luxemburger Schulen viel seltener behandelt als Bücher von Männern. Warum ist das so und wieso sollte sich daran etwas ändern? Das Tageblatt hat sich mit Claire Schadeck, Forscherin und politischen Beauftragten der Organisation CID, über diese Fragen unterhalten.
Noch immer werden Bücher von Frauen an Luxemburger Schulen viel seltener gelesen als Werke, die aus der Feder männlicher Autoren stammen. „In den Abschlussjahren liegt das Verhältnis zwischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller ungefähr bei 80 zu 20 Prozent“, schreiben Bildungsminister Claude Meisch (DP) und Taina Bofferding (LSAP), Ministerin für die Gleichstellung von Frauen und Männern, in ihrer gemeinsamen Antwort auf eine parlamentarische Frage der CSV-Abgeordneten Octavie Modert.
Das Tageblatt hat sich mit Claire Schadeck darüber unterhalten, warum diese Schieflage problematisch ist und womit sie überhaupt zusammenhängt. Als politische Beauftragte der feministischen Organisation „Fraen an Gender“ (CID) setzt sich Schadeck für Gendergerechtigkeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen ein. Sie plädiert dafür, junge Menschen frühzeitig für Themen wie Gender und darauf bezogene Diskriminierung zu sensibilisieren. „Man muss bei der Jugend ansetzen, da sie die Zukunft ist – das darf man nicht einfach so ausblenden“, sagt sie. Dennoch überrascht es sie nicht, dass der Weg zur Geschlechterparität, was die Schullektüre angeht, noch lang ist.
Auswahl an Schriftstellerinnen nicht genutzt
„Welche Literatur oder welche Kunst schätzen wir wert? Wann sind wir der Meinung, das ist echte Literatur, und wann denken wir, das ist Stümperei?“ Das sind die Fragen, die laut Schadeck hinter der Auswahl jener literarischen Werke stehen, die in allen möglichen Kontexten rezipiert und letztlich auch für die Gestaltung der Lehrpläne angenommen werden. Wenn man sich ansieht, auf welche Werke die Wahl dabei oft fällt, wird deutlich: Literatur, die von Männern geschrieben wurde, ist bei der Rezeption in- und außerhalb der Klassensäle überrepräsentiert. Das hat mit der historischen und historisch begründeten Benachteiligung von Frauen zu tun. Nach wie vor werde Intelligenz mit Männlichkeit assoziiert, sagt die junge Frau. Man denke, dass Männer „die richtige Literatur“ produzieren würden. Dieser Glaube hält sich nach wie vor aufrecht. Schadeck sagt: „Es ist keine Sache von: Es ist keine Auswahl da, wir haben keine Autorinnen.“ Schriftstellerinnen seien nämlich genug da. „Es ist eine bewusste Entscheidung gegen Autorinnen.“
Bewusst – und doch nicht bösartig, könnte man sagen. Denn die Entscheidung gegen Bücher, auf deren Cover ein weiblicher Name prangt, hat nichts damit zu tun, dass man Frauen unbedingt ausschließen möchte oder ihnen den Erfolg nicht gönnt. Oft möchte man nur auf Nummer sicher gehen, indem man einen Autor wählt, der bekannter ist, schon als Klassiker gilt und/oder den man als kompetent einschätzt. Dadurch werden Schriftsteller gegenüber von Schriftstellerinnen tendenziell bevorzugt. „Viele Menschen handeln nicht mit böser Intention“, wirft Schadeck ein. Ihnen fehle lediglich der Blick für solche Dinge, weil sie nie darauf aufmerksam gemacht worden seien. Mit anderen Worten: Die Sensibilisierung fehlt. Das lässt Entscheidungsträger und Gatekeeper im Zweifelsfall eher zu Texten greifen, die von Männern geschrieben wurden.
Vier Autorinnen und 30 Autoren
Welche Konsequenzen das für den schulischen Unterricht hat, zeigt eine Studie aus dem Jahr 2019 auf eindrückliche Weise. Sie wurde im Auftrag des Gleichstellungsministeriums von der Universität Luxemburg durchgeführt. Die beteiligten Forscherinnen untersuchten 57 Schulbücher, die für den nationalen Grundschulunterricht gebraucht werden, auf Geschlechterstereotype. Eines ihrer Ergebnisse war: Von den Lesetexten aus den acht berücksichtigten Deutschbüchern stammen 67 Prozent von männlichen und 29 Prozent von weiblichen Autoren, die Quelle der restlichen vier Prozent ist unbekannt. In den Luxemburgischbüchern ist das Ungleichgewicht noch größer. Hier stammen 84 Prozent der Texte von Männern und nur 13 von Frauen, die Identität der Urheber der letzten drei Prozent ist nicht bekannt.
Schadeck arbeitet selbst in der Forschung an der Universität Luxemburg. Zurzeit widmet sie sich dem zweiten Teil dieser Studie, an dem jedoch nicht mehr das Ministerium beteiligt ist, sondern von der Universität sowie einer Stiftung getragen wird. Sie untersucht die Schulbücher, die in den niederen Klassen des „Enseignement secondaire“ benutzt werden. Endgültige Resultate liegen noch nicht vor, jedoch hat Schadeck schon Schulbücher wie „Lies de bal“ analysiert. „Darin gibt es nur vier Autorinnen und 30 Autoren“, sagt Schadeck. Besonders unverständlich sei dies, weil verschiedene Autoren, ob männlich oder weiblich, mehrmals auftauchten, anstatt dass Texte weitere Schriftsteller und Schriftstellerinnen vorgestellt würden.
Wir alle haben eine eingeschränkte Perspektive und das heißt, wir müssen die Gruppe von Menschen, die Entscheidungen trifft und die in Führungspositionen sitzt, so divers wie möglich gestaltenForscherin
Die Frage, die sich aufdrängt, wenn man das hört: Wie ist das zu erklären, immerhin ist der „Kanon“ der Luxemburger Literatur nicht vergleichbar mit dem deutschen Kanon? „Das ist für mich einfach eine Mischung aus Ignoranz und Bequemlichkeit“, sagt die Expertin. „Denn wir haben Autorinnen hier in Luxemburg.“ Ob Mutwilligkeit dahinter stecke, wisse sie nicht. „Aber wir können uns nicht darauf ausruhen, dass wir sagen, wir haben das jetzt Jahr für Jahr so gemacht – wir müssen auch ein wenig unseren Horizont verlassen und sagen, dass wir jetzt diese alten Schemata hinter uns lassen und das (die Schulbücher, Anm. d. Red.) jetzt so divers wie möglich zu gestalten. „Wenn nur Bücher von männlichen Autoren gelesen wird, dann wird auch nur deren Arbeit finanziell unterstützt, die Situation der Autorinnen wird komplett ausgeblendet.“
Mehr Vielfalt heißt weniger blinde Flecken
Und warum ist Diversität in Schulbüchern und Lehrplänen noch wichtig? „Man kann eben die Hypothese aufstellen, dass das, was wir in unseren jungen Jahren an Literatur konsumieren und an Geschlechterbildern gezeigt bekommen, uns formt und unsere Entscheidungen enorm beeinflusst“, erklärt Schadeck. Auf was dieser Gedanke anspielt: Wenn Schüler vornehmlich Literatur lesen, die von einer einzigen demografischen Gruppe geschrieben wurde und somit getränkt ist von deren Weltsicht und Erfahrungen, werden sie davon beeinflusst und übernehmen womöglich zahlreiche in den Texten implizit vorhandenen Vorstellungen mitsamt den in ihnen angelegten Hierarchien und Stereotypen.
„Man muss sich anschauen, wer denn darüber entscheidet, was gut oder schlecht ist“, sagt Schadeck. „Wer entscheidet über den Kanon? Alte weiße Männer.“ Natürlich bediene man da auch ein Klischee, wie Schadeck feststellt, aber es sei trotzdem wahr. „Wenn nur eine bestimmte Bevölkerungsgruppe die Macht hat, darüber zu entscheiden, was gut oder schlecht ist, lassen wir viele anderen Perspektiven außer Acht, das liegt ja auf der Hand.“ Damit wolle sie nicht alte weiße Männer kritisieren, auch sie selbst habe als junge weiße Frau nur eine eingeschränkte Sicht auf die Welt. „Wir alle haben eine eingeschränkte Perspektive und das heißt, wir müssen die Gruppe von Menschen, die Entscheidungen trifft und die in Führungspositionen sitzt, so divers wie möglich gestalten.“ Je heterogener sie sei, desto aufmerksamer würde man auf verschiedene Dinge werden. „Aber das ist ein enorm langer Prozess, das fordert einen gewissen Willen zur Transformation und einen gewissen Willen, aus der Bequemlichkeit herauszukommen“, betont die Luxemburgerin.
Sexualisierte Gewalt durch Bücher normalisiert
Den guten Willen der beteiligten Instanzen spürt Schadeck schon, wie sie selbst sagt. Nur: „Wir wissen nicht, wie lange es dauert, ein Curriculum zu ändern, welche Schritte dafür eingeleitet werden müssen.“ Wichtig sei deswegen die Aufklärungsarbeit und Sensibilisierungsarbeit, die CID leiste. Auch andere Vereinigungen hätten schon in der Vergangenheit auf ähnliche Probleme aufmerksam gemacht, so zum Beispiel auf den Missstand, „dass sexualisierte Gewalt in Büchern oft als Standard dargestellt beziehungsweise verharmlost wird beziehungsweise nicht kommentiert wird, wenn in ,Faust‘ oder in ,Madame Bovary‘ solche Aspekte vorkommen.“
Es ist eben eine weitere systemische Schwachstelle: das Lehrpersonal, das in dieser Hinsicht auf sich alleine gestellt ist. „Die Programmkommissionen geben aber – außer im Abschlussjahr – nur Vorschläge vor, welche Bücher gelesen werden können“, schreiben die beiden Minister in ihrer Antwort auf die parlamentarische Frage. „Es bleibt im Ermessen vom Lehrer oder der Lehrerin, auf welches Buch konkret zurückgegriffen wird.“ Auch die Schwerpunktsetzung bei der literarischen Analyse ist der Lehrkraft überlassen, und das kann unter Umständen dazu führen, dass Genderaspekte gar nicht oder nicht kritisch bespiegelt werden. „Es hängt extrem davon ab, wie die Klasse ist, wie das Umfeld der Klasse ist und wer vor der Klasse steht“, unterstreicht auch die Forscherin. „Da kann man Glück haben und auf eine reflektierte Person stoßen, die einen guten Rahmen dafür schafft und die Schüler aufklärt, aber man kann ebenfalls Pech haben – dass junge Menschen davon abhängig sind, wen sie vor sich sitzen haben, ist ein großes Problem unseres Schulsystems.“
Lehrpersonal sollte sensibilisiert werden
Das „Institut de formation de l’éducation nationale“ (IFEN) biete im Rahmen der „Formation continue“ immer wieder Weiterbildungen für Lehrpersonal zum Thema Gender an, sagt Schadeck. Das Problem dabei: „Es ist nicht verpflichtend, eine Weiterbildung zu Geschlecht oder der literarischen Aufarbeitung von Geschlecht zu absolvieren.“ Man könne sich auch für andere Themen entscheiden. Diese seien bestimmt auch wichtig, betont die engagierte Frau. „Mir ist bewusst, dass es enorm schwierig ist, jeden wichtigen Gegenstand unterzubringen, aber ich finde, dass es eine gewisse Notwendigkeit gibt und dass wir die nicht einfach aus Bequemlichkeit ausblenden können.“ Ihrer Meinung nach müsse man sich anders aufstellen, was die Organisation von Weiterbildungen angehe, und verschiedene Module oder Themen verpflichtend machen.
„Geschlechtergerechtigkeit wird immer gesondert behandelt“, sagt Schadeck. „Aber in meinen Augen müsse jedes andere Thema durch die Perspektive des Geschlechts beleuchtet werden, denn wir alle haben ein Geschlecht, es ist etwas, das uns alle betrifft“. Geschlechtergerechtigkeit würde nicht nur beim Begriff anfangen. „Es zieht sich durch alle unsere Handlungen den ganzen Tag über und durch alles, was wir konsumieren – das muss unbedingt aufgearbeitet werden.“
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