Theater / „Winterreise“, oder: „Wie geht’s euch bei all den schweren Themen?“
Jakob Arnold inszeniert „Winterreise“ von Elfriede Jelinek im Kapuzinertheater mit einem luxemburgischen Ensemble als Musik-Theater-Abend. Jelineks Text kommt zur Geltung, überzeugende Bilder findet nicht der ganze Abend.
Elfriede Jelineks Stücke spalten die Gemüter. Als 2004 der Literaturnobelpreis an die Österreicherin vergeben wurde, verließ ein 82-jähriges Mitglied empört die Jury. Vielen gilt sie als Nestbeschmutzerin. Mit ihrem sarkastischen, provokanten Stil eckt sie an.
Für ihr Theaterstück „Winterreise“, 2011 bei Rowohlt erschienen, das im selben Jahr in einer Inszenierung von Johan Simons in den Münchner Kammerspielen (seinerzeit mit dem Luxemburger André Jung) uraufgeführt wurde, erhielt sie den Mülheimer Dramatikerpreis.
Ihr Text ist inspiriert an Franz Schuberts gleichnamigem Liedzyklus „Winterreise“, Jelineks erklärtem Lieblingskomponisten. Früh setzen Klavierklänge mit Motiven dieser kalt-melancholischen Musik ein. Sie werden den Ton angeben und das Geschehen untermalen.
Wie stets bei Jelinek geht es auch in ihrer „Winterreise“ um Heimatlosigkeit, Sehnsucht, Einsamkeit, die Spannung zwischen dem eigenen Leben und der bürgerlichen (faschistoiden) Gesellschaft. Das ist noch sehr heutig, obschon die Bankenskandale um den Verkauf der österreichischen Hypo Alpe Adria an die Bayerische Landesbank und die Aufregung um den medialen Umgang mit dem Entführungsopfer Natascha Kampusch schon Schnee von gestern sind. Ein bisschen Lokal-Kolorit/-Bezug wurde hineingestreut, indem im Kapuzinertheater das Wort „Caritas“ fällt.
Lokal-Kolorit „Caritas“
Charakteristisch für die österreichische Autorin ist die Dekonstruktion und Montagetechnik sowie ihre schneidende Sprache. Dabei sagte sie einmal selbst über ihre Theatertexte, dass ihre Stücke, mit Ausnahme der ersten, in denen sie das Genre noch geübt hat, im Grunde keine Theaterstücke im landläufigen Sinn seien. Es sind Texte, die gesprochen werden sollen, und zwar von der ‚erhöhten Sprecherposition‘ aus. Erst der Regisseur muss daraus ein Stück machen.
Auch Jelineks „Winterreise“ besteht aus einer fragmentierten Handlung, die keinerlei Regie-Anweisungen enthält. Die acht Kapitel beinhalten komplexe Reflexionen zu Sein und Zeit, eine beißende Gesellschaftskritik. Nachdem die Uraufführung in Detmold wegen der Corona-Pandemie ins Wasser gefallen war, inszeniert Jakob Arnold nun die „Winterreise“ im Kapuzinertheater als „Hybrid zwischen Konzert, Schauspiel und Performance“ (Broschüre) mit einem eigens zusammengestellten luxemburgischen Ensemble.
Düstere Klangwelten
Am Gravitationszentrum des Geschehens, dem Klavier und anderen Instrumenten, erzeugen die Musiker Franz Leander Klee und Henning Nierstenhöfer herrlich düstere Klangwelten, die sich an Schuberts Liederzyklus anlehnen. Ihnen steht der Stimmenchor der namenlosen Figuren entgegen. Und so viel sei vorweggenommen: Die intensivsten Momente dieser Inszenierung sind getragen von der Musik.
Christian Blechschmidt hat das Motiv der Winterlandschaft beim Wort genommen. Die Bühne des Kapuzinertheaters ist vom Schnee bedeckt, es weht ein eisiger Wind. Die Schauspieler*innen sind eingemummelt in Schneeanzüge. Ein gigantisches Gerüst wird auf die Bühne gerollt; man ahnt, dass es wie in der Inszenierung der Dreigroschenoper am Berliner Ensemble von Barrie Kosky dem Auf- und Abstieg der Figuren dient.
„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus“: Diese ersten Worte von Schuberts Liederzyklus klingen auch zu Beginn von Jelineks Text an. Dort heißt es: „Was zieht da mit, was zieht da mit mir mit, was zieht da an mir?“ Wie der Wanderer in Schuberts Liedern irrt auch in Jelineks Text ein lyrisches Ich rastlos durch die Welt …
Rastlose Wanderer
Auf der Bühne des Kapuzinertheaters ist dieser rastlose Wanderer zunächst Max Thommes, der als Bergsteiger ächzt: „Ich stecke bis zum Hals im Scheitern – man nimmt mich in die Wanderpflicht.“ Eine Stimme kündigt die Besetzung an: „El-Friede Jelinek – Winter-Reise in acht Tagen. Auf der Bühne verzweifeln Catherine Elsen, Max Thommes, Nora Koenig und Nickel Bösenberg.“
Jelineks Text entfaltet trotz stellenweise etwas zu monotoner Vortragung seine Wirkung: „Kreide – kann man ganz leicht auslöschen wie Menschen …“ oder: „Nur der Ausweis weist aus – wir weisen niemanden aus.“ Die Geschichte sei bewundernswert. Sie versuche sich immer wieder zu wiederholen, scheitere aber an sich selbst. „Es ist vorbei“, stellt Max Thommes fest, „fragen Sie die Zeit!“ – „Die Zeit ist ein böses Tier.“
Die Frauen-Figuren lehnen anfangs lasziv an dem Gerüst. Catherine Elsen erinnert mit blonder Perücke an eine junge Version von Catherine Deneuve, Nora Koenig trägt Glacé-Handschuhe und Nerz.
Im Kapitel vier zu Natascha Kampusch wird die Bühne dunkel. Die Figuren kauern auf dem Gerüst … während Max Thommes im Rock über die Bühne irrt. „Man wird das Mädchen dafür verachten, dass sie wieder da ist.“ Neid auf das Rampenlicht des Opfers spricht aus den Figuren: „Wieso kommt die ins Fernsehen?“ Während die Darsteller*innen lethargisch in dem Gerüst hängen.
Trügerische Alpenidylle
Zu Trompetenklängen wird im nächsten Abschnitt ein Rollo ausgebreitet: eine idyllische Alpenidylle. (Das Alpenpanorama hat bereits Peter Carp bei seiner „Winterreise“ im November 2011 in Oberhausen bemüht.) Nora Koenig und Nickel Bösenberg tragen Trachten und geben das spießige Alpen-Paar, wirken jedoch etwas aufgesetzt. „Schauen Sie doch dem Tod nach“, gibt Koenig trocken von sich.
Dem Alpenpanorama folgt im sechsten Kapitel ein Vorhang mit einer riesigen Vagina als Hintergrund. Catherine Elsen steigt durch die Ritze und durchbricht die vierte Wand, indem sie das Publikum direkt anspricht: „Hey, wie geht’s euch bei all den schweren Themen? Banken, Nazis, Natascha Kampusch – und es wird so weitergehen!“, warnt Elsen keck, um über die Welt der Dating-Apps (Bumble, Tinder, OkCupid …) zu räsonieren.
Als Single habe sie jetzt unbegrenzten Zugang zur gesamten Männerwelt. Drei Prototypen hätten sich herausgeschält: erstens der mit einem großen Fisch (Ernährer), dann der Typ, der sich selbst im Spiegel fotografiert; drittens der, der es zu was bringen will und im Auto fährt … Sie ist angezogen von dem Fisherman; mit dem könne man eine Familie gründen, der könne sie ernähren. Ihre Erfahrungen münden in der Feststellung: „Das Netz ist eine Gebärmutter für Menschen, die total fertig sind.“ Am Ende ihres Monologs wird sie verführerisch ihren Kopf durch die Spalte stecken: eine Fantasie, über die ausnahmslos die Männer im Saal laut lachen.
Selbstironische Reflexion Jelineks: die alte Leier
Im siebten Kapitel wird das Gerüst zum Spital. Die Schauspieler*innen tragen weiße Kittel; die Einweisung in die Psychiatrie steht bevor: Bösenberg steht in den Wahnsinn abgleitend verlassen auf der Bühne und gibt resigniert halluzinierend von sich, sie hätten einen Stufenplan, damit sie ihn zu den Irren bringen können: „Ich habe kein Recht, hier zu liegen.“
In dem selbstironischen Kommentar, dem Alter Ego der Autorin mündend, wird das letzte Lied aus dem Schubertschen Liederzyklus, „Der Leiermann“ (Drüben hinterm Dorfe), aufgegriffen. Am Schluss stehen die Worte: „Und was haben Sie zu verbuchen? Fremd eingezogen, fremd ausgezogen, die Leier drehend, immer dieselbe Leier, immer dasselbe?“ Ein überdimensionaler Kassettenrekorder steht auf der Bühne, dreht sich und spult den von den Schauspieler*innen eingesprochenen Text ab. Dann fällt die Bühne in gleißendes Licht.
Jakob Arnolds Inszenierung im Kapuzinertheater ist vor allem musikalisch überzeugend. Das Ensemble beeindruckt streckenweise durch seine Bühnenpräsenz. Einige Bühnen-Bilder (die Alpenidylle, das Gerüst) wirken etwas abgegriffen. Zu effektheischend und fragwürdig ist das sechste Kapitel geraten. Jelineks starker Text, der einem nicht zuletzt durch die Selbstreflexion in Erinnerung bleibt („Im Scheitern einen Zugang zu sich selbst gewinnen – das wäre doch was“), ist ein Trostpflaster.
Infos
„Winterreise“ von Elfriede Jelinek / Fassung von Jakob Arnold & Ensemble
Mit: Nickel Bösenberg, Catherine Elsen, Nora Koenig, Max Thommes; Regie: Jakob Arnold; Regieassistenz und Dramaturgie: Claire Wagener; Bühne und Kostüme: Christian Blechschmidt; Kostümassistenz: Maryse Muller; Komposition und Livemusik: Franz Leander Klee, Henning Nierstenhöfer; Licht: Fränz Meyers; Ankleide: Anna Bonelli; Maske: Zoe Ewen; Requisite: Marko Mladenovic; Bau des Bühnenbildes: Werkstatt der Théâtres de la Ville de Luxembourg; Produktion: Les Théâtres de la Ville de Luxembourg.
Premiere war am Donnerstag, dem 7. November 2024, im Kapuzinertheater. Weitere Spieltermine: Dienstag, den 12., Mittwoch, den 13. und Donnerstag, den 14. November 2024 um 20.00 Uhr.
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