Klangwelten / Wolinksi, Frahm und NIN liefern den Soundtrack für den Weltuntergang
Mittlerweile sind die ersten Platten, die im oder für den Lockdown geschrieben wurden, erschienen. Bei den meisten handelt es sich um melancholische Umrisse der Einsamkeit – diese Musik ist weder tröstend noch aufbauend, sie beschreibt allerdings die aktuelle Lage auf eine unerbittliche Weise.
Nine Inch Nails: „Ghosts“, Teile V & VI
Nach einer Reihe von drei relativ starken E.P.s wurde es erneut ruhig um Trent Reznors Nine Inch Nails. Seit Jahren betreibt Reznor die Band allein mit Produzent und Mitstreiter Atticus Ross, die beiden zeigen sich zudem für eine ganze Reihe an Soundtrackarbeiten (Finchers Filme „The Social Network“ oder „The Girl With the Dragon Tattoo“) verantwortlich. „Ghosts V: Together“ und „Ghosts VI: Locusts“ wurden ohne große Vorankündigungen zu Beginn der Pandemie veröffentlicht, dem Nine-Inch-Nails-Fan werden über 150 Minuten neue Musik geboten.
Wer sich an die experimentelle, instrumentale Platte „Ghosts I-IV“ erinnert, weiß in etwa, was ihn erwartet: Die Ghosts-Serie besteht aus sehr viel dunkler Atmosphäre und knüpft eher an die Soundtracks von Reznor und Ross als an die restliche Diskografie der Industrial-Band an, auch wenn Reznors Idiosynkrasien – das schiefe, bedrohliche Klavier, die sägenden Gitarren – sich in jedem seiner Projekte manifestieren. Im Gegensatz zu den 36 Klangfetzen von „Ghosts I-IV“ setzen die 23 Tracks von „Together“ und „Locusts“ auf sehr lange, oft zehnminütige Tracks, deren Atmosphäre sich langsam aufbaut oder bedrohlich im Wohnzimmer pulsiert.
Nine Inch Nails – Together (Audio Only)
From the album ‚Ghosts V: Together‘ available now. #StayHome and ESCAPE #withMe More details at: http://www.nin.com https://www.facebook.com/ninofficial/ htt…
Laut Reznor ist „Together“ die hoffnungsspendende Platte, die eine Art klangliches Happy End für die aktuelle Pandemie entwickelt, „Locusts“ beschwört dann ein Weltuntergangsszenario nach dem anderen hinauf. Die Wahrheit ist natürlich komplexer, denn auch „Together“ ist definitiv kein Kind der Fröhlichkeit: Im Hintergrund des Titeltracks, der auf einer besänftigenden Klaviermelodie basiert, machen sich unbequeme Ambient-Geräusche, die an Tim Heckers „Ravedeath 1972“ erinnern, bereit, der dunkle gregorianische Chor und die dissonanten Synthies auf „With Faith“ sind beklemmend, „Apart“ ist mit Klavier und Streichern wunderschön, aber todtraurig. „Your Touch“ ergänzt seine schöne Klaviermelodie mit fiependen Synthies, während „Still Right Here“ sich nach einem gemächlichen Aufbau mit kreisenden Gitarren und tanzbaren Beats zum Höhepunkt dieser Platte auftürmt.
„Locusts“ ist noch länger und ersetzt die Melancholie von „Together“ durch eine oftmals schaurige Stimmung – Opener „The Cursed Clock“ hätte mit Sicherheit in jedem Horrorstreifen seinen Platz gehabt, überhaupt denkt man mehr als einmal an die gruseligeren Momente der David-Lynch-Filmografie und an das Werk von Lynchs „Hofkomponist“ Angelo Badalamenti. „Around Every Corner“ kombiniert atonales Klavier mit Neo-Noir-Jazztrompete und klingt ein bisschen so, als würde Philip Marlowe in der Hölle ermitteln. Auf die melancholische „The Worriment Waltz“ folgen eine Reihe kürzerer Songs: „Run Like Hell“ erinnert an Unkle, hier treffen stimmige Blasinstrumente und Streicher auf trivale Trip-Hop-Beats – ein definitives Highlight der Sammlung.
„Another Crashed Car“ ist so kurz wie viele der „Ghosts I-IV“-Tracks, was angesichts der melancholischen Atmosphäre schon fast schade ist, dasselbe gilt für „Trust Fades“, das an Thom Yorkes Soundtrack zu „Suspiria“ erinnert. Tracks wie die grandios-bedrohlichen „Your New Normal“ und „Turn This off Please“ erwähnen bereits in ihren Titeln, welche Atmosphäre sie aufkommen lassen. Nach sieben Wochen Lockdown fassen „Together“ und „Locusts“ das Stimmungswechselbad zwischen melancholischer Langeweile und verzweifelter Unruhe perfekt zusammen.
Nils Frahm: „Empty“
Im Rahmen der Piano Days, die wie so viele Kulturevents dieses Jahr der Pandemie zum Opfer fielen, entschied Nils Frahm, den Soundtrack für den Kurzfilm „Empty“, den er zusammen mit seinem Freund und Regisseur Benoît Toulemonde in den verschneiten französischen Alpen aufnahm, zu veröffentlichen. Frahm, der letztes Jahr in der Philharmonie eines der besten Konzerte des Jahres spielte, sieht diese Veröffentlichung als eine Gelegenheit, in Zeiten der Krise „Introspection and Reflection“ zu entdecken. „Empty“ reiht sich nahtlos in die Serie von Frahms E.P.s ein und erinnert teilweise an seine im Anschluss an das Meisterwerk „All Melody“ veröffentlichten „Encore“-E.P.s.
Empty
EMPTY Directed by Benoît Toulemonde Music & Sound by Nils Frahm Produced by Alix Turrettini – Bobine Benoît Toulemonde – Stances Director of Photography : Th…
Die Songs sind minimalistischer und folglich weniger vertrackt und vielschichtig als die Kompositionen seiner letzten Platte: Es sind leise, schöne Klavierminiaturen, die ihre Atmosphäre ebenso in der Stille und dem Knarzen der Pedalen zwischen den Noten als in den sanften Melodien selbst entwickeln. Am schönsten sind die bedächtigen „First (and Second) Defeat“, das melancholische „Black Notes“ und das berührende „A Shimmer“. Da aber hier weder ein virtuoses Klavierstück noch eine dieser schönen Klangarchitekturen, in denen Frahm Synthies, Orgelklänge, Klavier und Beats in einem organischen Ganzen verschmelzen lässt, vertreten ist, ist diese E.P. eher eine schöne Fußnote im beeindruckenden Gesamtwerk von Nils Frahm.
Paul Wolinski: „Rough Around the Edges“
Paul Wolinski, der bei 65daysofstatic Gitarre und Klavier spielt, wenn er für die Band nicht gerade einen eigenen Synthesizer baut oder Code schreibt, hat seine Songsammlung „A Hail of Tiny Cages“ an einem sonnigen Nachmittag in den frühen Tagen der Covid-19-Pandemie fertiggestellt. Die Songs dazu lagen schon lange bereit, ein gewisses Gefühl der Dringlichkeit habe ihn dazu verleitet, ihnen an jenem Tag eine definitive Struktur zu verleihen. „It’s a bit rough around the edges. But aren’t we all“, meint Wolinski. Das ist natürlich britisches Understatement: Das Ungeschliffene ist ein wichtiger Bestandteil von Wolinskis Klangästhetik, die Songs klingen gerade deswegen so gut, weil sie ihre Ecken und Kanten haben.
Wer 65daysofstatic kennt, weiß: Auch vor der Pandemie verstand es die Band, prächtige Weltuntergangsszenarien zu vertonen. Opener „A Hail of Tiny Cages“ ist flächige Synthie-Melancholie vom Feinsten, „MT“ lädt zum einsamen Tanz im Wohnzimmer ein, „Glacierror“ baut sich mit dunklen Gitarren auf, die an die Industrial-Tage von Nine Inch Nails erinnern, bevor „Sunday Loop“ mit vertrackten Beats um eine zerbrechliche Melodie umhertanzt – Wolinskis Verständnis vom Songwriting flirtet jederzeit mit dem möglichen Zerfall der Strukturen, aus diesem Spannungsfeld heraus entstehen seine besten Tracks. „Comotope“ klingt nach einer elektronischen Jam-Session mit einer künstlichen Intelligenz, der die treibenden Beats Struktur verleihen, „Slant“ erinnert an die „Endings“-E.P., die 65dos vor einem Monat veröffentlicht hat (mit „dream#3“ gibt es einen weiteren, noch konkreteren Verweis auf die E.P.-Reihe) und beendet die erste Hälfte der Platte mit Aphex-Twin-artigen Breakbeats.
Die zweite Hälfte besteht aus der sogenannten „WNF“-Suite, die flächigen, wuchtigen Synthies verweisen auf Wolinskis erste Soloarbeit „Labyrinths“. Wer sich an „Still Looking“, „Likes Fireflies“ und „A Waltz of Light“ von dieser Platte erinnern kann, wird hier mit dunkleren Pendants, die näher am aktuellen, trostlosen Zeitgeist liegen (am besten ist erneut „A Waltz of Light“, hier „AWOL ALT“ betitelt). Davor stehen vier neue Tracks mit Namen wie „C90“, „tQke“ oder „vpr.stutter“, die Musik dahinter ist zu jedem Zeitpunkt einfallsreich, meistens verdammt tanzbar und klingt, als wäre die Pandemie für jemanden mit Wolinskis Talent und Programmierkenntnissen doch keine so einsame Sache. (Jeff Schinker)
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