Klangwelten / „You don’t need to care about the truth“: „Reality Management LTD“ von TUYS
Nach der Songsammlung „A Curtain Call for Dreamers“ kehrt die luxemburgische Indie-Band TUYS mit ihrer ersten Platte seit „Swimming Youth“ zurück – und schafft gleich eine ganze Fiktionswelt, in der alle Songs um eine nebulöse Firma drehen, die ihren Sitz in einem kalten, eckigen Gebäude hat, wo sie verzweifelten und einsamen Menschen alternative Realitäten andreht. Diese Welt ist nicht nur das lyrische Bindeglied zwischen den einzelnen Songs, sondern auch der Schauplatz eines eigens von der Band gedrehten und produzierten Kurzfilms, der von sechs der elf Albumtitel begleitet wird.
Ob es den Unterbau der fiktionalen Dystopie, die die Songs thematisch verbindet, gebraucht hätte, sei dahingestellt – meines Erachtens greift das Konzept auf der ästhetischen Ebene einer kohärenten Fiktionswelt, wirkt aber auf einer semantischen Ebene etwas weniger dringlich. So oder so funktioniert die Platte aber einfach aufgrund der Tatsache, dass TUYS ihren Indierock hier so vielfältig und geschliffen wie nie zuvor gestalten. Denn auch wenn das Endresultat weniger verzerrt klingt, als Tun Biever es im Interview versprochen hatte – auf „Reality Management LTD“ gelingt es der Band, die stilistische Diversität von „A Curtain Call for Dreamer“ auf einer durch und durch stimmigen Platte zu verdichten.
Nach dem schauerlich-atmosphärischen „Title Sequence“, das wie ein Filmmusikauszug mitsamt jazzigen Schlagzeugmustern klingt, legt die Band mit dem elektronisch blubbernden „Straight Jacket Party“ los, auf dem der verdammt eingängige Synthiepop auch mal von einem Screamo-Moment, Spoken Word, Autotune und ordentlich verzerrten Gitarren durchbrochen wird. Dass das alles in knapp vier Minuten passiert, ohne aufgesetzt zu wirken, zeugt von der kompositorischen Reife, die TUYS mittlerweile erlangt hat.
Das anschließende „Historic Lies“ hätte auch von Natas Loves You stammen können, geschickt kombinieren TUYS hier Pop-Appeal mit Indie-Hymne, während in den Texten Fake News thematisiert wird: „You don’t need to care about the truth / You can just make up as many as you choose“. Auf „Look Alive“ geht es dann um Selbstfindung und Selbstbetrug im digitalen Zeitalter („Let me trade my ID for a little exposure“), der dazugehörige Song, in dem gesättigte Gitarren auf überdrehte Synthies treffen, ist trotz poppiger Kaugummimelodie einer der dunkelsten der Platte.
Auf „Yellow Ether“ erinnern vor allem die Synthies ein wenig an „Present Tense“, das Meisterwerk der Wild Beasts, „Yes, I’m Right“ hat den R’n’B-Vibe eines The-Weeknd-Songs, „The Romantic Role“ und auch „Everyday Soleil“ klingen ein wenig so, als hätte Metronomy mit Mew und Beach House zusammengearbeitet. Und trotz des vielfältigen popkulturellen Referenzhorizontes und der stilistischen Bandbreite der Platte gelingt es dem Quartett, so homogen wie selten zuvor zu klingen. Da verzeiht man dann auch, dass ein Song wie das etwas experimentellere „Out of the Blue“ weniger zündet – auf „Reality Management LTD“ gelingt TUYS der Spagat zwischen geschliffenem Pop mit Ohrwurmpotenzial und intelligentem und vielfältigem Indierock – oft auch, wie auf dem tollen „How to Breathe Underwater“, innerhalb eines einzigen Songs.
Bewertung: 8/10
Anspieltipps: „Historic Lies“, „Open Ears On a Straitjacket Party“, „How to Breathe Underwater“
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