Corona-Tagebuch (23) / Mittwoch, 8. April: Jenseits von „Métro, boulot, dodo“
Das Coronavirus beherrscht das Leben in Luxemburg. Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Eigentlich genau der richtige Zeitpunkt, um seine Gedanken mal wieder in einem Tagebuch niederzuschreiben. Was fällt uns auf, was empfinden wir und was erwarten wir? Das Corona-Tagebuch des Tageblatt gibt Einblick in diese Gedankenwelt.
Liebes Tagebuch, seit einigen Wochen wird von der breiten Gesellschaft das verlangt, was für chronisch kranke oder bettlägerige Personen zum Alltag gehört: zu Hause bleiben und nur bei absolutem Bedarf vor die Tür gehen. Und damit, liebes Tagebuch, tun sich viele schwer. Für Menschen, die beispielsweise an Angststörungen leiden, ist die aktuelle Situation schwer zu ertragen und weit mehr als eine Hängepartie. Vom Bild der heilen Familie, die in den eigenen vier Wänden zusammenhält und deren Alltag lediglich mal von lauten Kindern oder gestressten Eltern unterbrochen wird, sind nicht wenige weit entfernt. Ich selber kenne viele solcher Fälle, von Menschen, die mit tickenden Zeitbomben unter einem Dach leben, von Transgender-Personen, die derzeit in einem Haushalt ausharren müssen, der ihre Identität nicht akzeptiert.
Und dann gibt es noch die, für die die Abkehr vom „Métro, boulot, dodo“-Konzept – oder, passender für Luxemburg: „Auto, boulot, bistrot, dodo“ – Neuland bedeutet. Denn eines, liebes Tagebuch, hat die Corona-Pandemie gezeigt: Wenn sie auf sich allein gestellt sind, wissen viele Menschen nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Schuld daran sind nicht sie selbst, sondern das kapitalistische System, in dem wir aufgewachsen sind und uns eingehämmert wurde, nur für Geld oder Profit jedwelcher Art lohne es sich, Einsatz zu zeigen.
Dabei bietet die derzeitige Lage Möglichkeiten, bisherige Lebensweisen zu hinterfragen und sich als Individuum weiterzuentwickeln – zumindest für die, die gerade über zu viel Zeit klagen. Denn gleichzeitig hallt es an mehreren Fronten, nach der Krise sei nichts mehr wie vorher. Der Mensch wird den Neoliberalismus überwinden, nachhaltiger leben und sich solidarisch die Hände reichen. Wie schön! Nur leider ist der Mensch in erster Linie ein egoistisches Wesen, das vorwiegend an den eigenen Komfort denkt. Viel eher sehe ich einen Ansturm auf die Reisebüros und massive „Shopping hauls“ auf uns zukommen, sobald die Tore wieder geöffnet sind. „People will save the Earth to save themselves, but who will risk themselves to save the Earth?“, lautet das Konzept des Films „X1999“, den ich übrigens vor allem in diesen Zeiten empfehle. „The Fountain“ von Darren Aronofsky gehört ebenfalls auf die Liste.
Langweilen tue ich mich zurzeit wahrlich nicht. Ich vermisse das Powerlifting-Training, das einen großen Teil meines Alltags eingenommen hat und aktuell durch Calisthenics-Übungen abgelöst wird. Die Flashmobs und Events mit meinen Tanzgruppen fehlen mir ebenfalls. Stattdessen haben sich meine Aktivitäten ins Innere verlagert, und negativ ist dies keineswegs. Ich schreibe und mache wieder mehr Musik. Lese viel, von Fiktion bis hin zu Sachbüchern, Psychologie bis hin zu Historischem. Die Zeit nutze ich auch, um mich mal wieder bei Freunden zu melden, von denen ich länger nichts mehr gehört habe. Warum nicht eine neue Sprache oder ein neues Hobby aneignen?
Viele meiner Nähprojekte wurden erst mal auf Eis gelegt und durch das Herstellen von Stoffmasken für Einwohner meines Dorfes ersetzt. Klar erreichen diese Exemplare nicht den Nutzwert eines „echten“ Mundschutzes mit Filter, den Menschen in Asien tragen, doch für den Bürger, der im Supermarkt zusätzlich den erforderlichen Abstand zu anderen einhält, sind sie immerhin besser als gar nichts. Und ich merke: Das Nähen solcher kleinerer Accessoires macht mir Spaß und ich kann mit unterschiedlichen Motiven arbeiten. Geld bekomme ich dafür keines. Die Dankbarkeit der Abnehmer genügt.
An dieser Stelle möchte ich aber ebenfalls darauf hinweisen, dass zahlreiche gewerbliche Schneider Baumwollmasken anfertigen und Interessierte mit dem Kauf einer solchen keinen Konzern mit Produktionssitz in Ländern mit miserablen Arbeitsbedingungen, sondern lokales Handwerk unterstützen. Es sei denn, sie sind auf der Suche nach einem FFP2- oder FFP3-Mundschutz. Da sieht die Lage leider anders aus. Der derzeitige wissenschaftliche Konsens scheint jedoch zu lauten, dass für den Bürger, der nicht in einem Krankenhaus arbeitet und sich an die von der Regierung angeordneten Hygienemaßnahmen hält, eine Baumwollmaske durchaus Sinn ergibt. Und für die kann man auch mal etwas ausgeben. Kleinunternehmen sind gerade in diesen Zeiten auf die Hilfe der Bevölkerung angewiesen.
Nun denn, liebes Tagebuch. Vielleicht irre ich mich ja. Vielleicht wachen wir tatsächlich irgendwann in einer besseren Welt auf. Aber dafür müssten wir erst einmal anfangen, an uns selbst zu arbeiten.
Das Tageblatt-Tagebuch
Das Leben ist, wie es ist. Corona hin oder her. Klar, die Situation ist ernst. Aber vielleicht sollte man versuchen, ein wenig Normalität in diesem Ausnahmezustand zu wahren. Deshalb veröffentlicht das Tageblatt seit dem 16. März (s)ein Corona-Tagebuch. Geschildert werden darin persönliche Einschätzungen, Enttäuschungen und Erwartungen verschiedener Journalisten.
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