Corona-Tagebuch (42) / Montag, 4. Mai: Ist keine Kunst, kann weg
Das Coronavirus beherrscht weiter das Leben in Luxemburg. Die Lage ist ernst, jedoch nicht hoffnungslos. Eigentlich genau der richtige Zeitpunkt, um seine Gedanken mal wieder in einem Tagebuch niederzuschreiben. Was fällt uns auf, was empfinden wir und was erwarten wir? Das Corona-Tagebuch des Tageblatt gibt Einblick in diese Gedankenwelt.
Liebes Tagebuch, ist das Kunst oder kann das weg? Wenn es nach dem dominierenden Kulturdiskurs hierzulande ginge, würden viele Bereiche wegfallen, weil sie nicht in die Entourage oder Weltsicht der Entscheidenden passen. Was eigentlich schade ist, denn dadurch wird Akteuren die Chance verwehrt, sich Gehör zu verschaffen.
Mein Hauptproblem, liebes Tagebuch, ist der enge Kunstbegriff, mit dem viele Kulturschaffende arbeiten. Ich spreche jetzt nicht von persönlichem Geschmack. Einen sterbenden Hund auszustellen, würde ich eher als kriminelle Tat einordnen, und auch Wassermelonen finde ich – unabhängig vom „Statement“ dieser Performance – jetzt nicht so appetitlich, dass ich einer Person zuschauen würde, wie sie sich diese genüsslich in einem Museum reinstopft. Aber darum geht es ja nicht. Auch nicht darum, dass die meisten Menschen einen Schwerpunkt haben und sich mit manchem besser auskennen als mit anderem.
Wenn die Veranstalter künstlerischer Projekte in Luxemburg mit „Vertretern jeder Gattung“ oder „jede Kunstrichtung ist willkommen“ werben, hüpft mein Herz kurz vor Freude, nur um dann wieder enttäuscht zu werden. „Alle Gattungen willkommen“ entpuppt sich leider in den meisten Fällen als „nur die Gattungen, die ich persönlich als Kunst ansehe und respektiere“ beziehungsweise „meine Freunde und ich“.
Dass Literatur, Film, Malerei, Fotografie, Theater und bestimmte Musikgenres als Kunst anzusehen sind, bestreitet niemand. Schwieriger sieht es für Comics oder für in die Kategorie Handwerk eingeordnete Richtungen wie Keramik oder Modedesign jenseits von Haute Couture aus.
Ich sehe schon, was du meinst, liebes Tagebuch. Als was man gelabelt wird, sollte keine Rolle spielen. Tut es auch nicht. Es ist nicht so, als würde man dadurch, dass man es „geschafft hat“, als Kunstrichtung angesehen zu werden, ein besonderes Leckerli bekommen. Dennoch ist nicht abzustreiten, dass Hierarchien entstehen, wenn sich der Kunst- beziehungsweise Kulturbegriff vieler Menschen auf Literatur, Film, Malerei, Fotografie, Theater und bestimmte Musikgenres reduziert.
Liebes Tagebuch, ich verrate dir jetzt, was meine Lieblingskunstrichtung ist. Es sind Visual Novels. Die befinden sich irgendwo an der Schwelle zwischen Literatur und Videospielen und werden wie E-Books auf dem PC oder Smartphone gelesen. Sie verbinden Elemente aus Literatur, Musik und Design miteinander und sind häufig interaktiv. Das heißt, die Leser können Entscheidungen treffen, die eventuell Einfluss auf den Verlauf der Geschichte haben. Dadurch bestehen viele Visual Novels aus mehreren Geschichten. Du siehst, ein solches Werk auf die Beine zu stellen, ist eine Menge Arbeit. Arbeit, die respektiert werden sollte. Allerdings erinnern Visual Novels designtechnisch an Manga, eine weitere Gattung, die es nach wie vor schwer hat, einen Platz im hiesigen Kulturdiskurs zu finden, und der der Ruf anhaftet, Kinderkram zu sein, obwohl mir auf Anhieb mehr Mangas einfallen, in der die Welt untergeht, als solche, die für „naive Kiddies“ geeignet wären. In letzter Zeit ist es in der Hinsicht jedoch besser geworden. Trotzdem: weg damit!
Auch weg mit den Straßenkünstlern, da für viele Menschen Kunst nach wie vor hauptsächlich auf großen Bühnen beziehungsweise institutionalisiert stattfindet. Weibliche Künstler? Ja, einige dürfen ran, aber ein kulturelles Projekt ist keines, wenn es nicht von Männern dominiert wird. Frauen, die ernsthaft für ihr Schaffen angesehen werden wollen, müssen aber auf jeden Fall weg.
Ich könnte noch viel dazu sagen, aber ich denke, du weißt, worauf ich hinaus will, liebes Tagebuch. Ich bin jetzt mal weg und transkribiere „unintellektuelle“ Musik. Nachher werde ich „If My Heart Had Wings“ weiterlesen. Ich übe mich außerdem darin, das Wort mit dem großen C wenn möglich gar nicht zu erwähnen. Denn es gibt noch andere Dinge im Leben.
Das Tageblatt-Tagebuch
Das Leben ist, wie es ist. Corona hin oder her. Klar, die Situation ist ernst. Aber vielleicht sollte man versuchen, ein wenig Normalität in diesem Ausnahmezustand zu wahren. Deshalb veröffentlicht das Tageblatt seit dem 16. März (s)ein Corona-Tagebuch. Geschildert werden darin persönliche Einschätzungen, Enttäuschungen und Erwartungen verschiedener Journalisten.
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