Forum / Der „digitale Radiergummi“ – Vergangenheit zwischen 0 und 1
Im 18. Jahrhundert bezeichnete man das Briefeschreiben als einen „schriftlichen Besuch“. Denn zum Brief gehörte die Grußformel, eine Erzählung oder Mitteilung und die Verabschiedung. Wer ein Tagebuch führt, so könnte man den Gedanken erweitern, besucht sich sozusagen selbst. Man klopft in der eigenen Erinnerungsabteilung an und hält fest, was sich ereignet hat. Bereits hier beginnt die Auswahl aus einem Leben, das viele Spuren hinterlässt.
Geschrieben wird auch heute noch viel, aber gerne auch korrigiert, was in einer ersten Fassung vielleicht noch nicht gefällt. Überschreiben, löschen, verschieben – das Leben bekommt viele „Auflagen“. Seit geraumer Zeit gehört zur Analyse (politischer) Gegenwartsphänomene dennoch die Äußerung der Erwartung, dass es an Erzählungen mangele. Daniel Kehlmann schrieb in seinem Roman „Ruhm“ den schönen Satz: „Wir sind immer in Geschichten.“ Unser Alltag gleicht nicht immer, aber immer öfter einer unkoordinierten Aneinanderreihung von Kurzgeschichten, gelegentlich sehr kurzen Geschichten. Manche Plattformen im Internet haben ganz neue Zeiteinheiten für unsere Aufmerksamkeit definiert. Längst sind wir zudem dazu übergegangen, Wichtiges und weniger Wichtiges mithilfe moderner Technologien auszulagern. Schnell gerät da etwas in Vergessenheit.
So vertraut man auf die Kunst des Speicherns und Archivierens und erfährt auf einmal, dass einem Bilderdienst ein Backup-Fehler unterlaufen ist. Was vor der Welt des Digitalen in dieser Deutlichkeit nicht als Verlust erlebt werden konnte, verdeutlicht nun, dass das Erinnern eine wichtige Quelle der Zufriedenheit ist, vor allem, wenn es um persönliche Erlebnisse geht. Die geschriebene Geschichte ist dagegen eher ein Friedhof, wie der frz. Soziologe Maurice Halbwachs (1877-1945) es in seiner Arbeit zum kollektiven Gedächtnis einmal formulierte.
Wenn wir unser Gehirn nicht einem besonderen Training unterziehen, geht auch vieles verloren. Dass Londoner Taxifahrer einen ausgeprägten Orientierungssinn haben, wundert uns nicht. Aber manchmal registrieren wir mit Erstaunen, dass von den gestrigen Nachrichten nicht allzu viel korrekt nacherzählt werden kann. Noch immer erinnert die Wissenschaft an Hermann Ebbinghaus (1850-1909), der im 19. Jahrhundert in vielen Experimenten eine Vergessenskurve ermittelte, die einem analogen Radiergummi gleicht, ob es uns nun lieb ist oder nicht. Zugleich gibt es auf gesellschaftlicher Ebene viele Bereiche, in denen systematisch „Wider das Vergessen“ gearbeitet wird und z.B. mit Gedenktagen, Gedenkstätten oder gezielten Aktionen die Vergangenheit in einem Spiegel erscheint.
„Recht auf Vergessen“
So betrachtet löst die Rede von einem „Recht auf Vergessen“ eher Erstaunen aus. Eigentlich muss es korrekt „Vergessenwerden“ heißen. Es signalisiert ein neues Schutzbedürfnis, das durch die Vorstellung „Das Internet vergisst nichts“ verstärkt wird und den Datenschutz vor neue Herausforderungen stellt. Es wurde durch spektakuläre Fälle zu einem Bestandteil der öffentlichen Debatte: Da ist beispielsweise eine angehende Lehrerin in den Vereinigten Staaten, die auf einer Internetplattform ein Foto veröffentlichte und den Kommentar „Drunken Pirate“ hinzufügte. Die Schule, an der sie zukünftig arbeiten wollte, empfand diesen Partyspaß als unverträglich mit dem Wertekodex der Einrichtung. Es kam zu keiner Anstellung; ein Video, aufgenommen während eines Straßenevents in einer deutschen Großstadt, macht durch viele Kopien eine lange Reise durch das Internet. Immer ist dabei ein tanzendes Paar zu sehen. Der Tänzer beginnt sich nach vielen Jahren gegen diese Vervielfältigung zu wehren und erhält als Entschädigung eine „Lizenzgebühr“; nicht nur Prominente kämpfen gegen die fortwährende Verleumdung auf Social-Media-Plattformen und müssen häufig viele gerichtliche Instanzen durchlaufen, bis diese Beschimpfungen von den Plattformbetreibern entfernt oder unsichtbar gemacht werden. Eine Person, deren Name bei Suchanfragen im Internet immer wieder mit einem seit langem abgegoltenen schwerwiegenden Delikt in Verbindung gebracht wird, erkämpft sich das Recht, dass diese Information nicht mehr so leicht gefunden werden kann.
Hinter allem steht somit ein Recht auf Widerspruch gegen die Veröffentlichung personenbezogener Daten. Gerichte befassen sich täglich mit diesen Anliegen. Stets geht es um Schutzvorkehrungen im Einzelfall. Der „digitale Radiergummi“ verweist in diesem Zusammenhang auf den Vorschlag, Dateien im Internet mit einem automatischen Verfallsdatum zu versehen. Die Reaktionen waren nicht überraschend: albern, unmoralisch, naiv. Gerne wird in diesem Zusammenhang ein Leitspruch der Internet-Community bemüht: „Das Netz fasst Zensur als Beschädigung auf und umgeht sie.“ Seit Barbra Streisand im Jahr 2003 gegen die Veröffentlichung eines Fotos anging, das ihr Haus zeigte, weiß jeder, wo die Schauspielerin wohnt. Wenn die unerlaubte Veröffentlichung eines Fotos das Interesse an einem Bild steigert, wird seitdem vom Streisand-Effekt gesprochen. Andere plädieren für ein sinnvolles Austarieren individueller und politischer Belange. Eine zu starke Ausweitung von Grundrechten erschwere z.B. die zielgruppenadäquate Umsetzung politischer Entscheidungen. Konsens ist hier offensichtlich eine Fiktion.
Die Plattform, auf der das Bild „Drunken Pirate“ vor vielen Jahren zu sehen war, hat übrigens im Rahmen eines Serverumzugs alle Fotos, Audio- und Videodateien, die in den Jahren 2003 bis 2016 hochgeladen wurden, verloren. Ein Verfallsdatum war von den Nutzern natürlich nicht festgelegt worden. Man stelle sich diese tägliche Notwendigkeit der Vorausschau für einen Moment vor: Bereits heute bedeutet Mediennutzung nicht mehr nur das Hören, Sehen, Lesen, Suchen. Es meint das Sortieren, Umgruppieren, Löschen, einigermaßen Ordnung halten. Und nun auch noch entscheiden, wann etwas vielleicht nicht mehr wichtig ist? Der Mensch kann für sich Sonderaufmerksamkeiten entwickeln, die unweigerlich auch mit dem Weglassen bestimmter Informationen einhergehen. Es gibt also auch unweigerlich gewolltes Vergessen der Konzentration wegen.
„In Stein gemeißelt“
Wir nutzen dieses Netzwerk aber in der Regel in der Erwartung, dass es uns mit Informationen versorgt. Wir erwarten nicht, dass uns eine Fehlanzeige erreicht. Bei genauerem Hinsehen wird einem bewusst, dass das Internet durchaus vergisst. Solange historische Stätten unversehrt bleiben, kann im wahrsten Sinne die Formulierung „In Stein gemeißelt“ gelten. Nur mutwillige Zerstörung oder drastische Umwelteinflüsse bedrohen das Kulturgut. Aber, wie bereits beschrieben, ist auch die elektronische Welt verlustreich. Nur fällt es in der schieren Unmenge nicht auf. Wer beispielsweise die Seite „Killed by Google“ aufruft, findet dort einen Friedhof von Apps und anderen Diensten, die hier einen Ort der Ruhe finden. Digitale Archive, die auf den Wechsel von Innovation und Zerstörung hinweisen, werden wachsen.
Das Vergessen bestimmter Errungenschaften findet ohnehin im Sinne eines Verdrängens von einmal Bewährtem durch Verbessertes statt. Kein Update mehr verfügbar? Der Markt drängt auf Neuerung, während auf politischer Ebene, z.B. im Rahmen des Digital Services Act der Europäischen Union, für längere Fristen votiert wird. Aber bereits heute nehmen Formen „amputierter“ IT-Welten zu. Ständig wird nicht nur erneuert, sondern immer seltener steht der analoge Weg überhaupt noch als Option im Raum. Wer in einer solchen Welt aufwächst, mag gelegentlich auch Klage über diese ständig wachsende Zahl digitaler Begleiter führen. Aber er geht täglich damit um und sein Umfeld richtet sich – so gut es geht – nach dem Status quo des homo digitalis. Aber wer diese Vertrautheit nicht hat oder sich eine solche schlicht nicht aufbauen und/oder leisten kann, würde vielleicht einen Tante-Emma-Laden für den digitalen Alltag begrüßen. Eine Gesellschaft auf der Überholspur lässt zu viele am Straßenrand oder der Bushaltestelle zurück.
Hilfen zum Schutz der Privatsphäre
Aber das Unbehagen an der digitalen Moderne wird zumindest registriert, und zwar sowohl individuell in Form eines Grundmisstrauens als auch medial durch eine Flut von Beobachtungskameras, die das Leben zu einem Film machen. Verständlich, wenn ein solches Umfeld den dauerhaften digitalen Verzicht proklamiert, also nicht den Radiergummi, sondern den Löschzug empfiehlt. Reaktionen bleiben nicht aus: Da gibt es auf einmal einen „Nicht-Stören-Modus“ oder andere Hilfen zum Schutz der Privatsphäre in den sozialen Medien. Aber es ist keine wirkliche Freiwilligkeit, die hier zum Umdenken führt. Es ist ein Ringen um den Taktstock. Als Elon Musk im Jahr 2022 Twitter erwarb, schrieb er: „The bird is freed.“ Vom für die IT-Welt zuständigen EU-Kommissar erhielt er als Antwort: „In Europe, the bird will fly by our rules.“
Freiflug- oder Freifahrtscheine sind in der IT-Welt begehrt. Aber die Sorge um die Privatsphäre angesichts einer Ausweitung halb-öffentlicher und öffentlicher Räume steigert die politische Fürsorgepflicht. Wie in vielen anderen Bereichen des Lebens halten sich die Menschen für unverwundbar und sehen Probleme meist nur bei anderen. Immer wieder wird auch beobachtet, dass die Nutzerinnen und Nutzer die Gefahr dieses modernen Panopticon (gelegentlich auch „Netopticon“ genannt) kennen und im Sinne eines „So what?“ die Welt, wie sie ist, einfach ertragen. Der digitale Beobachtungsraum kann nicht so leicht ausgeschaltet werden. Deshalb vermeiden Nutzerinnen und Nutzer vermehrt eigene Kommentare in online geführten Diskussionen oder schauen nur zu, was andere so tun, begnügen sich also eher mit einem Fernlesen oder Fernsehen neuer Art.
Das „Weiterleiten“ von A nach B und von dort zu vielen anderen und wieder vielen anderen ist zu einem populären Internetsport geworden, der neue Rekordwelten aufgebaut hat. Erfolg wird z.B. in Follower-Zahlen gemessen. Selbstkontrolle kann, je nach Engagement, in diesem Beschleunigungsmedium zu einer Vollzeitbeschäftigung werden. Alle gut gemeinten Absichten, irgendwann einmal aufzuräumen, Spuren zu beseitigen oder alles säuberlich zu ordnen, werden in den meisten Fällen ein frommer Wunsch bleiben. Der digitale Radiergummi wird zwar ohne eigenes Zutun ebenfalls seine Dienste leisten. Gut ist dennoch immer, sich an Dinge zu erinnern, die wirklich wichtig sind – damit man in „Geschichten“ bleibt.
Michael Jäckel ist Professor für Soziologie. Von 2011 bis 2023 war er Präsident der Universität Trier.
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