Forum / Wider das binäre Denken
Mit Bezug auf den Nahostkonflikt und den öffentlichen Diskurs dazu hat Stefan Kunzmann in einem Editorial eine Polarisierung beschrieben, die Komplexität und Differenzierung ausschließt.
In der Tat: Allgemein stellt man eine Tendenz fest zum binären Denken. Einem Denken in der Kategorie des „Entweder … oder“. 1 oder 0. Für oder gegen. Nichts daneben, nichts dazwischen. Zu den Grundsätzen der Logik gehört schließlich der Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Es regnet oder es regnet nicht. Aber was ist, wenn es nieselt? Ja, ich weiß, Nieselregen ist auch Regen. Dennoch, bei allem Respekt vor der unverzichtbaren aristotelischen Logik: In den politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wird der (falsch verstandene) Satz vom ausgeschlossenen Dritten zu einer ideologischen Waffe.
Mensch ist männlich oder weiblich, schwarz oder weiß, für oder gegen Europa, für oder gegen die Demokratie, für soziale oder für Gender-Gerechtigkeit und so fort.
Man ist für Waffenlieferungen an die Ukrainer oder für Putin. Umgekehrt: Wer gegen Putin ist, ist ein Handlanger des westlichen Imperialismus. Man hat entweder pro-israelisch zu sein oder pro-palästinensisch. Für Nuancen und Differenzierungen ist kein Raum. Es ist vor allem tragisch, wenn dieses binäre Denken auch die Linke mit einer Zerreißprobe belastet, die ihr nicht nützt in ihrem unentbehrlichen Kampf gegen Ungerechtigkeit. Kritisches Denken, die Linke zu Recht immer fordern und fördern wollen, verträgt sich sowieso nicht mit solcher Entweder-oder-Logik.
Russland, Israel, Palästina
Es scheint aber schwer zu sein, Bedenken gegen Waffenlieferungen mit einer eindeutigen Kritik an Putins Russland zu verbinden. Umgekehrt tun wir uns schwer, den Waffenlieferungen zuzustimmen, mit denen sich ein unabhängiger Staat gegen einen brutalen Aggressor zu wehren versucht. Denn damit geben wir nicht nur unseren Pazifismus auf, wir verlängern den todbringenden Krieg und verhindern diplomatische Initiativen. Wieso kann man nicht den Waffenlieferungen mit Bauchschmerzen zustimmen und gleichzeitig ernsthafte Verhandlungen fordern, ohne rote Linien – außer der, dass das Sterben ein Ende haben muss? Und darüber hinaus sich engagieren für eine Wiederbelebung des Völkerrechts und eine neue globale Sicherheitsordnung.
In Bezug auf den Nahostkonflikt ist es noch dramatischer. Man ist entweder für Israel oder für Palästina. Wer an die Shoah erinnert, lässt sich von Netanjahu instrumentalisieren. Wer das Existenzrecht des Staates Israel verteidigt, ist ein kolonialistischer Zionist. Und umgekehrt: Wer den aggressiven, kriegerischen Zionismus der israelischen extremen Rechten kritisiert, muss sich den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen.
Wieso kann man nicht eintreten für die Rechte der palästinensischen Bevölkerung UND für das Existenzrecht Israels als Refugium der immer wieder von Hass bedrohten Juden? Wieso kann man nicht die Massenverbrechen in Gaza verurteilen und gleichzeitig kompromisslos den Antisemitismus bekämpfen – auch wenn er aus arabischen oder muslimischen Milieus kommt?
Die Mitte gegen alle Extreme
Das binäre Denken wird auch von rechts gegen links gewandt. Wer nicht mit den Inhalten europäischer Verträge und europäischer Politik einverstanden ist, ist gegen Europa. Wer gegen den Kapitalismus ist, ist gegen die Demokratie. Man ist entweder Mitte oder extrem.
Und da es nur zwei Pole geben kann, müssen alle „Extremismen“ (rechte wie linke) in einen Topf geworfen werden: die Mitte gegen alle Extreme.
Binäres Denken verlangt Vereinfachung. Komplexere Analysen passen nicht dazu. Differenzierte Ursachenforschung auch nicht. Denn Ursachen suchen gilt immer als Entschuldigung. Wandte ja auch schon Macron gegen die Soziologie, im Zusammenhang der Aufstände in den Vorstädten. Schon wer sich bemüht um eine neutrale Darstellung der Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs, gilt als Putin-Versteher.
Lagerdenken gehört zum binären Denken. Il faut choisir son camp! Zwischen den Frontlinien ist immer nur Verrat. So erklärt sich vielleicht die bedenkliche Verklärung der Hamas als legitime Widerstandsbewegung bei der linken Feministin Judith Butler und anderen. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Lagerdenken impliziert die selektive Beurteilung von Demokratie-, Menschen- oder Völkerrechtsverletzungen. Entsprechend dem jeweiligen ideologischen Lager. Immer auf einem Auge blind, mal rechts, mal links.
Carl Schmitt, der sehr rechte Rechtsphilosoph, hat in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts die binäre Lagerlogik zur politischen Theorie erhoben. Wie das Moralische definiert sei durch die Unterscheidung von Gut und Böse, das Ästhetische durch die von Schön und Hässlich, so sei die spezifisch politische Unterscheidung die von Freund und Feind. „Er (der Feind) ist eben der andere, der Fremde“ („Der Begriff des Politischen“, 26). Zwischen Freund und Feind gibt es keine Kompromisse, es gibt keine Möglichkeit einer neutralen Beschwichtigung. Zum Begriff des Feindes gehört „die reale Möglichkeit der physischen Tötung“ (31). Schmitt wollte einen autoritären Staat mit einem einig Volk, aus dem alles Andere, alles Heterogene ausgeschlossen oder vernichtet wird. Er wurde zum Komplizen des Nazi-Regimes.
Carl Schmitt dürfte sich freuen, dass sein Freund-Feind-Schema manche Anhänger in der heutigen Welt zu finden scheint. Leider – so meine ich – auch bei einigen Linken.
Gegen alle Unterdrückung, Ausbeutung
Aber, hör doch mal! Gerade du als Linker musst doch Partei ergreifen, oder? Ja, das sollte ich. Gegen jedes Unrecht. Gegen alle Unterdrückung, Ausbeutung, Erniedrigung. Aber eben: alle! Nur so ist Hoffnung.
Soeben ist von Amanda Devi ein bewegender Bericht erschienen über ihre Nacht im Gefängnis von Montluc („La nuit s’ajoute à la nuit“). Dort waren jüdische Kinder vor ihrem Abtransport nach Auschwitz interniert, Resistenzler oft vor ihrer Ermordung, dann aber auch Kollaborateure und schließlich algerische Kämpfer für die Unabhängigkeit.
Der Bericht ist gleichzeitig ein beeindruckender Essay über die Zerrissenheit der „condition humaine“. Wo sich hinstellen zwischen den „Lagern“ der Leidenden? Den jüdischen Kindern, den gefolterten Resistenzlern, den misshandelten geschorenen Frauen bei der Befreiung, den erniedrigten Sklaven, Vorfahren der Autorin? Sie weiß es scheinbar nicht. „Je ne sais plus de quel côté me poser. Il n’y a pas de côtés.“ Und doch: „Il n’y a rien d’irrémédiable dans la violence des hommes. Ni tornade ni séisme. Juste un choix.“ Sich den Lagern verweigern heißt nicht, keine Wahl treffen.
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