Großbritannien / Kaum ist Labour-Regierung im Amt, gibt es Streit um Bekämpfung der Kinderarmut
Keir Starmer gab sich gutgelaunt und generös. In der ersten „Fragestunde des Premierministers“ gratulierte der neue britische Regierungschef am Mittwoch frischgewählten Hinterbänklern jeglicher Couleur zur Wahl, verteilte Komplimente an seinen Tory-Vorgänger Rishi Sunak und scherzte mit dem liberaldemokratischen Parteichef Edward Davey. Er freue sich, diesen im gewöhnlichen Anzug zu sehen, denn: „Im Wahlkampf hatten wir uns daran gewöhnt, ihn nur noch im Neoprenanzug zu sehen.“
Selbst den schottischen Nationalisten Stephen Flynn behandelte der Labour-Chef höflich, obwohl der SNP-Fraktionschef ein unangenehmes Thema ansprach: die Kinderarmut auf der Insel. Tags zuvor hatte Flynn in der Debatte über das Regierungsprogramm eine Abstimmung erzwungen und damit die erste Rebellion in der Labour-Fraktion heraufbeschworen. Sieben Hinterbänkler vom linken Flügel schlossen sich dem SNP-Antrag an und forderten die sofortige Abschaffung der Kindergeld-Deckelung für Sozialhilfeempfänger. Weil die Regierung über eine riesige Mehrheit verfügt, wurde das Ansinnen abgeschmettert.
Die von Anfang an hochumstrittene Maßnahme der konservativen Vorgänger-Regierung gilt seit 2017. Seither erhalten Sozialhilfeempfänger nur noch Zusatzleistungen für zwei Kinder, von Ausnahmen wie Zwillingen oder Drillingen abgesehen. Im Normalfall wird für das dritte und jedes weitere Kind das Kindergeld gestrichen. Neben der Eindämmung des exorbitant wachsenden Sozialhaushaltes führten die Torys damals auch moralische Argumente ins Feld: Wer dem Staat auf der Tasche liege, solle die Finanzlage der Familie nicht noch durch zusätzliche Kinder verschlimmern. Dieses Ziel der Gesetzgebung wurde vollkommen verfehlt, wie die Entwicklung der vergangenen Jahre zeigt. Inzwischen sind mehr als 330.000 Kinder von der Deckelung betroffen, insgesamt leben 2,5 Millionen junge Leute unter 18 Jahren in Armut.
Schwierige Situation der Staatsfinanzen
Paul Johnson vom Institut für Fiskalstudien (IFS) hat eine Beispielrechnung aufgemacht: Ohne die Deckelung hätte eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern nach Abzug der Mietkosten rund 1.517 Pfund (1.807 Euro) pro Monat zur Verfügung. Damit läge sie knapp oberhalb der offiziellen Armutsgrenze. Durch die Deckelung aber schrumpft der Betrag auf 1.226 Pfund (1.460 Euro), die Familie lebt in Armut. Langfristig gesehen würde die Aufhebung der Deckelung Johnsons Rechnung zufolge mit 3,4 Mrd. Pfund (4,05 Mrd. Euro) jährlich zu Buche schlagen. Das sei zwar „kein trivialer Betrag“, findet Johnson, aber im Kontext des Gesamthaushaltes machbar, sollte Labour es zur hohen Priorität erklären. Freilich weiß auch Johnson: „Es gibt viele hohe Prioritäten.“
Mit diesem Argument und dem Hinweis auf die schwierige Situation der Staatsfinanzen – dem Statistikamt zufolge erreichte die Staatsschuld im vergangenen Quartal 99,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts BIP – hatten Starmer und seine Finanzministerin Rachel Reeves im Wahlkampf die sofortige Abschaffung des Deckels verweigert, aber eine rasche Prüfung zugesagt. Seit der Wahl hat der Premierminister die Ministerinnen für Soziales und Bildung damit beauftragt, eine umfassende Strategie zur Bekämpfung der Kinderarmut zu entwickeln. Seine Regierung widme sich dem Problem mit hoher Energie, beteuerte Starmer im Unterhaus.
Labour-Abgeordneten Fraktionsstatus entzogen
Vieles deutet darauf hin, dass Reeves bei einer noch für diesen Monat angekündigten Bestandsaufnahme der Staatskasse einen Hinweis darauf geben wird, wann sie die verhasste Deckelung abschaffen will. Dass die Sache vielen Labour-Abgeordneten unter den Nägeln brennt, steht außer Frage, wie die Hinterbänklerin Kim Johnson betont: „Das muss eine Priorität für den kommenden Haushalt sein.“
Weil über ihren eigenen Antrag nicht abgestimmt wurde, stimmte die Sozialpolitikerin Johnson am Dienstagabend „aus Gründen der Einigkeit“ mit der Regierung – anders als das Rebellen-Septett, zu dem die engen Vertrauten des früheren Labour-Chefs Jeremy Corbyn, John McDonnell und Rebecca Long-Bailey, zählen. Den Angehörigen der sogenannten sozialistischen Kampagnengruppe (SCG) entzog Starmer umgehend für ein halbes Jahr den Fraktionsstatus. Das sei ein „Macho-Potenztest“, höhnte SCG-Chefin Zarah Sultana in der BBC: „Die Abschaffung des Deckels sollte für eine Labour-Regierung Priorität sein.“
Dass die sieben Linken gemeinsame Sache mit ihrem Idol Corbyn, den Reform-Rechtspopulisten, Grünen und Nationalisten machten, erbittert Loyalisten wie Jonathan Ashworth vom Thinktank Labour Together. Die Suspendierung der Fraktionsmitgliedschaft gehe in Ordnung, findet der enge Starmer-Vertraute: „Sie sollten sich an der Arbeitsgruppe beteiligen, anstatt mit einer leeren Geste gegen ihre eigene Regierung zu stimmen.“
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