Großregion / Europa im Kleinen: Der Grenzfall Leidingen (D)
Früher war die Grenze, die Leidingen in französische und deutsche Einwohner teilt, nicht zu spüren. Heute sind die Zeiten, in denen Lokalpolitiker das ohne zu zögern sagen, vorbei. Das Miteinander und die europäische Idee haben Risse bekommen. Alle Hoffnungen liegen nun auf der Dorfschule.
Friedlich liegt die Landschaft da. In dem Dorf, das sie umgibt, nimmt das Landleben seinen Lauf. Kühe weiden auf den Wiesen, Traktoren fahren ab und an durch die Straßen, im Brunnen gegenüber der Kirche plätschert das Wasser. Ein Kurierfahrer aus Frankreich hält, wäscht sich Hände und Gesicht und genießt das kühle, glasklare Wasser, bevor er weiterfährt.
Gestört wird die Idylle nur von nationalen Symbolen, die hier fehl am Platz wirken. Das von Bäumen und Hecken eingerahmte blaue Europaschild an einer Straßenkreuzung ist so ein Beispiel oder die Grenzsteine, die auffällig mitten im Grün stehen. Irgendjemand hat auf der einen Seite die Nationalfarben Frankreichs aufgemalt. Die Rückseite zeigt Schwarz-Rot-Gold, die Nationalfarben Deutschlands. In Leidingen oder Leiding-les-Bains können sich Franzosen und Deutsche zuwinken und ohne Grenzübertritt ein Schwätzchen halten.
Eine Straße teilt das Dorf
Die 1,6 Kilometer lange „neutrale Straße” oder „rue de la Frontière” teilt das Dorf zwischen zwei Nationen auf. 184 Menschen wohnen auf der deutschen Seite, rund 30 auf der französischen. Niemandsland gibt es hier nicht. Das ist schon seit Ewigkeiten so. Der zweite Pariser Frieden legt auf dem Reißbrett fest, was zuvor auf dem Wiener Kongress 1815 verhandelt wird. „Die Politiker waren damals alle besoffen“, kommentiert Wolfgang Schmitt (66) die paradoxe Situation. „Napoleon musste erst einmal das Waterloo-Debakel verkraften.“
Der 1,90 Meter große Hüne mit den kantigen Gesichtszügen und dem trockenen Humor ist seit 26 Jahren Ortsvorsteher, Psychologe und Seelsorger in einer Person in Leidingen. Er stammt aus dem zwei Kilometer entfernten Nachbarort und kennt hier jeden. Schmitt spielt jedes Jahr den Nikolaus für die rund 25 Kinder des Dorfes, verteilt zusammen mit der Dorfgemeinschaft Brezeln am Martinstag, richtet Feste aus. „Dann ist der Platz hier voller Franzosen, die mit uns feiern“, sagt er. „Das ist eine schöne Erfahrung.“ Es kommen nicht nur die Leidinger von der französischen Seite, sondern auch Leute aus den Nachbardörfern in Lothringen.
Nationale „Deals“ im kleinen Grenzverkehr gewähren Versorgungssicherheit. Das Trinkwasser für die Franzosen kommt aus Deutschland, der Strom für die historischen Lampen auf der neutralen Straße liefert die „Electricité de France“ (EDF) an die Bewohner auf beiden Seiten. Schule, Bäckerauto und Postbote sind national geregelt – jedem das seine. Seit Jahren sieht der Sozialdemokrat es als seine Aufgabe an, zusammen mit seinem französischen Pendant Barthélémy Lemal (64) für ein gutes Miteinander zu sorgen.
Damit ist es nun vorbei. Lemal ist bei den Lokalwahlen im Juni 2020 an einer geplanten Windkraftanlage gescheitert. Lange aber klappt die unkonventionelle Zusammenarbeit einwandfrei. Deutsche und Franzosen leben vis-à-vis. Nationale Ressentiments stehen hintenan, die Bewohner verhalten sich so, wie es der Name der Grenzstraße vorgibt: neutral. Konrad Adenauer (1876-1967) und Charles de Gaulle (1890-1970) hätten ihre Freude am Tun der beiden Lokalpolitiker.
„Lockdown“ weckt Erinnerungen
Die beiden Staatsmänner legen 1962 den Grundstein für die deutsch-französische Freundschaft in der Kathedrale von Reims. Schmitt, der Ortsvorsteher des geteilten Dorfes, hat sie verewigt. Auf den „Grenzblickfenstern“, die er initiiert, schauen sich ihre Silhouetten in die Augen. Als wollten sie erinnern und gleichzeitig mahnen, die europäische Idee nicht aus den Augen zu verlieren. Egal, was kommt.
Damit, dass ein Virus zeigt, wie fragil das alles ist, hat niemand gerechnet. „Von wegen Europa. Das ist dünnes Eis. Der Erste, der fest drauftritt, der bricht ein“, heißen die ersten Zeilen des Gedichts auf den Fenstern. Mit Corona hat das liebevoll gepflegte deutsch-französische Porzellan Risse bekommen. Eingebrochen ist niemand, aber ein ungutes Gefühl bleibt. „Der Bundesgrenzschutz und die Kontrollen haben für viele Missverständnisse gesorgt“, sagt Schmitt. „Das sind wir ja nicht mehr gewohnt.“
Spätestens seit dem Abkommen von Schengen 1985 ist der Grenzverkehr mit Schlagbäumen und Passkontrollen in Leidingen endgültig passé. Er treibt zwischenzeitlich noch einmal seltsame Blüten. 1935 entscheiden sich die Saarländer, ins Deutsche Reich zurückzukehren. Zöllner mit Schäferhunden prägen danach lange das Bild hinter dem Dorf, kontrollieren und schikanieren – auf beiden Seiten.
Seitdem gibt es zwei katholische Kirchen für die 230 Einwohner. Franzosen müssen zu der Zeit weite Umwege in Kauf nehmen, um die Kirche auf deutscher Seite zu nutzen, wie sie es immer getan haben. Der französische Staat baut ein neue auf seiner Seite des Dorfes. 1939 wird sie eingeweiht. „Die Situation während des Lockdowns hat Erinnerungen geweckt“, sagt Schmitt.
Ihnen will er begegnen. Zu Beginn des Lockdowns verteilt er Masken, die die Gemeindeverwaltung im deutschen Wallerfangen ausgibt, auf beiden Seiten. „Das kam drüben gut an“, sagt Schmitt, der noch mehr vorhat. Die ehemalige Dorfschule soll renoviert werden. Ein Zuschuss vom Land Saarland und aus europäischen Töpfen steht in Aussicht.
In dem Haus sollen Europa und interkulturelle Kompetenzen erlernt werden. „Geschichte, Geografie, Sprache, Kochrezepte, unser Dialekt oder gemeinsames Boule-Spielen“: An Ideen für den Lehrplan fehlt es Schmitt nicht. „Nach dem Ganzen hier müssen wir wieder aufeinander zugehen“, sagt er. „Das europäische Miteinander braucht eine ständige Massage.“ In Sätzen wie diesen werden sich seine luxemburgischen und deutschen Kollegen nicht nur entlang der Mosel wiedererkennen.
Wandern: Grenzblickweg
Der rund 13 Kilometer lange Wanderweg führt mit schönen Aussichten entlang der deutsch-französischen Grenze. Der Grenzblickweg startet in Leidingen. Wanderer sind ca. 4,5 Stunden unterwegs. Er ist vom Deutschen Wanderinstitut prämiert. Start ist an der Kirche auf französischer Seite.
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