35 Jahre Schengen-Vertrag / Geburtstagsfeier mit gemischten Gefühlen
Vor genau 35 Jahren, am 14. Juni 1985, wurde der Grundstein für die Schengener Verträge gelegt. Selbst wenn diese zeitweilig arg gebeutelt werden, so sind sie doch zum Bleiben gezwungen. Das sagte einer ihrer Unterzeichner, der damalige Staatssekretär Robert Goebbels, in einem von der Uni Luxemburg organisierten Gespräch.
Wie viele unserer persönlichen Freiheiten leiden auch sie unter Covid-19: die – zurzeit ausgesetzten – Schengener Verträge, die den freien Personen-, Waren- und Finanzverkehr zwischen 26 Ländern garantieren. Dabei hätte die Unterzeichnung des allerersten Abkommens am 14. Juni 1985 durchaus eine schöne Geburtstagsfeier verdient.
Ihren Anfang nahm die Idee bei einem der legendären Abendessen zwischen den französischen und deutschen Präsidenten, in diesem Fall einem Treffen zwischen François Mitterrand und Helmut Kohl in einem Straßburger Restaurant.
Im Juni 1984, beim Europagipfel in Versailles, wollten die beiden europäischen Tenöre ihren Partnern ihre Idee schmackhaft machen. Sie hatten vorerst keinen Erfolg. Auch der Versuch, testweise die Grenze zwischen der französischen Europametropole und dem benachbarten deutschen Städtchen Kehl zu öffnen, schlug fehl. Dabei war das bei Weitem keine Revolution, die Straßburger fuhren ohnehin regelmäßig zum Tanken oder zum Einkaufen über den Rhein.
Mitterrand und Kohl ließen sich nicht ins Bockshorn jagen. Sie hielten an der Idee fest. Schützenhilfe kam von den Beneluxstaaten, wo Belgien, die Niederlande und Luxemburg die Grenzöffnung bereits vorexerziert hatten.
„Die Außenminister haben auch bei der Signatur noch nicht so richtig daran geglaubt. Deshalb hatten sie ‚nur’ die zweite Garnitur, in der Person ihrer jeweiligen Staatssekretäre, nach Schengen delegiert“, so Robert Goebbels mit leiser Selbstironie. Der Zufall wollte, dass Benelux mit der praktischen Umsetzung des Abkommens betraut war und Luxemburg zum Zeitpunkt der Unterzeichnung den Vorsitz führte. Daraufhin war es für den jungen Staatssekretär selbstverständlich, das Abkommen im Dreiländereck zwischen Frankreich, Deutschland und Luxemburg – stellvertretend für die drei Beneluxstaaten – unterzeichnen zu lassen. Und zwar auf einem Schiff auf der Mosel, die ja ebenfalls die drei Länder miteinander verbindet.
Geschichte geschrieben
„Was wir heute unterschreiben, wird eines Tages als ‚Schengener Abkommen’ in den Geschichtsbüchern stehen“, hatte der begeisterte Gastgeber am 14. Juni 1985 auf der „Marie-Astrid“ erklärt und dafür Gelächter geerntet. Gelacht haben allerdings nur die Politiker. Sehr schnell stieg der Druck der Grenzbewohner, die sich viel von den vereinfachten Grenzüberquerungen versprachen. Schließlich war man am Anfang des „Pendlerphänomens“.
Die politische Idee hat ihren Weg gemacht, nicht zuletzt durch die tatkräftige Unterstützung des damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Es hat jedoch noch weitere fünf Jahre gedauert, bis das Schengener Durchführungsübereinkommen unterzeichnet wurde. Diesmal war die Politik präsent, besonders die Parteien der Extremen liefen Sturm gegen die Vorstellung, einen Teil der Grenzsouveränitiät abtreten zu müssen.
Dennoch fand der freie Personenverkehr den Weg in die Abkommen von Amsterdam, Maastricht, Nizza und Lissabon, welche die Zusammenarbeit der Europäischen Union aufbauten. Am 26. März 1995 trat das Abkommen dann in Kraft. Heute umfasst es 22 EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegen, Island, die Schweiz und Liechtenstein.
Sich hinter Grenzen zu verstecken, verhindert keine Kriminalität, hält keinen Immigranten auf und hat auch das Virus nicht gestopptUnterzeichner des Schengen-Abkommens
Es hat die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Justiz, der inneren Sicherheit und der Flüchtlingsproblematik gefestigt. Das daraus entstandene „Schengener Informationssystem“ ist heute eine international anerkannte Datenbasis, an der sich sogar Großbritannien – das nie zum Schengener System gehörte – im Kampf gegen internationale Kriminalität beteiligt.
Auf Druck der Gegner wurden die Außengrenzen mit dem Aufbau der Frontex befestigt. Nach dem Druck der Immigrationswelle von 2015 wurde die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache verstärkt. „Sich hinter Grenzen zu verstecken, verhindert keine Kriminalität, hält keinen Immigranten auf und hat auch das Virus nicht gestoppt“, so Goebbels mit der Aufforderung, die Bewegungsfreiheit so schnell wie möglich wieder herzustellen und die Diskussionen über den freien Personen-, Waren- und Kapitalverkehr nochmals zu vertiefen. Was das Gegenteil bewirke, zeigt sich heute in den Verhandlungen über den Brexit und die Probleme an der irischen Grenze zu Nordirland. Bedauert hat der Politiker im digitalen Gespräch mit den Studenten der Uni Luxemburg – mit Hinweis auf Jacques Delors – die späte Reaktion der Kommission, die sich den jüngsten Grenzschließungen nicht widersetzt hat. „Dafür hat das Volk reagiert. Und das ist definitiv ein Zeichen für die Zukunft!“, so Goebbels.
Schlagbaum runter
Vor genau 25 Jahren sind die Grenzkontrollen in Europa verschwunden. Dieser Geburtstag am vergangenen 23. März ist allerdings kläglich ins Wasser gefallen, überrumpelt von der Pandemie und der darauf erfolgten Entscheidung, den freien Personenverkehr weltweit zu unterbinden. Die Grenzschließungen haben die Ausbreitung der Krankheit nicht verhindern können, dafür haben sie das Leben unendlich vieler Grenzgänger erschwert, einmal abgesehen vom luxemburgischen Krankenhauswesen, das dringend auf die Ausnahmen angewiesen war. Selbst wenn das Ausmaß der Grenzkontrollen diesmal viel breiter war, so ist es doch nicht zum ersten Mal, dass die Schengener Verträge außer Kraft gesetzt wurden. Das war 2015 angesichts der großen Flüchtlingswelle bereits der Fall gewesen. Deutschland hatte seine Grenzen auch vor der Fußballweltmeisterschaft von 2006 dichtgemacht, um eine massive Ankunft der Hooligans zu verhindern. Vor dem G20-Gipfel in Hamburg waren ebenfalls Kontrollen erfolgt. Frankreich hatte nach den Terroranschlägen im November 2015 und kurz vor der Weltklimakonferenz seine Grenzen vorübergehend geschlossen und damit hierzulande den Grenzgängern wiederum das Leben schwer gemacht.
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