Esch / Gemeinde kauft Haus für Abrisud: Wie es nach der Protestaktion für die Bewohner weiterging
Der Gemeinderat stimmte in der letzten Sitzung vor der Sommerpause mehrstimmig für den Kauf des Hauses in der rue de la Fontaine 9. Es ist das Haus, deren Bewohner im Dezember 2019 vor dem Rathaus demonstriert hatten, weil ihnen die Wohnung gekündigt wurde. In ihrem Zuhause soll die Obdachlosenunterkunft Abrisud in Zukunft ihren festen Sitz haben. Was inzwischen geschah.
Vier Tage vor Heiligabend hatten sich acht Bewohner, mit Regenschirmen ausgestattet, vor dem Escher Rathaus versammelt. Sie waren wütend und verzweifelt. Die Immobiliengesellschaft Tracol hatte ihnen allesamt den Mietvertrag gekündigt. Aus der Presse erfuhren sie dann, dass in ihrem Haus die Obdachlosenunterkunft Abrisud unterkommen soll. Sie fühlten sich ungerecht behandelt. Claudia Eischen, die damals zur Sprecherin der restlichen Hausbewohner gewählt wurde, empfand es als Mangel an Respekt, Menschen rauszuschmeißen, um anderen eine Unterkunft zu bieten.
Noch am selben Tag setzte Sozialschöffin Mandy Ragni („déi gréng“) sich mit den Bewohnern an einen Tisch und suchte das Gespräch. Für einen Moment kämpfte die junge Frau mit den Tränen – der Vorwurf, Menschen auf die Straße zu setzen, ging ihr nah. Sie versprach, ein Treffen der Bewohner mit der Immobiliengesellschaft in die Wege zu leiten und noch viel wichtiger: dass niemand auf der Straße landen wird.
Knapp sieben Monate und eine Pandemie später haben die Gemeinderäte nun mehrheitlich für den Kauf des Hauses gestimmt. „Es gab eine Bedingung, damit wir das Haus überhaupt kaufen“, erinnert Mandy Ragni. Nämlich dass die Immobiliengesellschaft Tracol, der es zuvor gehört hat, die Verantwortung übernimmt, die Bewohner neu unterzubringen. Im gleichen Viertel, zum gleichen Mietpreis, ohne Kaution und unter gleichen oder besseren Bedingungen. „Ich möchte noch einmal betonen, dass Tracol den Bewohnern auch den Mietvertrag gekündigt hätte, wenn die Gemeinde nicht Käufer gewesen wäre“, sagt sie. Es sei nämlich alles andere als selbstverständlich, dass eine Immobiliengesellschaft sich um die Neuunterbringung ihrer Bewohner kümmert. Dies sei nur passiert, weil die Gemeinde es gefordert hat.
Gemeinsame Entscheidung
Bisher hat Mandy Ragni ihre Versprechen gehalten. Das Treffen mit der Immobiliengesellschaft Tracol, die für die Neuunterbringung der Bewohner zuständig ist, fand im Januar statt. „Bei der Versammlung haben wir den Bewohnern noch einmal die Wohnungen und Häuser gezeigt, in denen sie untergebracht werden können“, sagt Fabio Marochi, Geschäftsführer bei Tracol. Welche Familie wo unterkommt, sei gemeinsam mit den Betroffenen und an deren Bedürfnisse angepasst entschieden worden. „Familien mit Kindern wurde ein Haus vorgeschlagen, während den anderen renovierte Wohnungen zur Verfügung gestellt wurden oder noch werden“, sagt er.
Seit den Diskussionen im Dezember sind bereits vier Familien in neuen Wohnungen untergekommen. Übriggeblieben sind sieben – eine davon zieht kommenden Monat um. „Die sechs verbleibenden werden spätestens im September umziehen“, versichert Marochi. Die Renovierungsarbeiten in ihren zukünftigen Wohnungen seien durch die Krise in Verzug geraten, weshalb die Bewohner etwas länger warten mussten als geplant.
Gesprächsbedarf
Claudia Eischen und ihr Sohn gehören zu den Familien, die bisher noch nicht umgezogen sind. „Wir warten noch, dass wir uns die neue Wohnung ansehen können“, sagt die junge Frau gegenüber dem Tageblatt. Sie sei nicht ganz zufrieden, weil ihr eine Wohnung unter dem Dach angeboten wurde. „Ich habe Asthma und Rückenprobleme und hatte eigentlich darum gebeten, möglichst wenige Treppen steigen zu müssen. Außerdem scheint die Wohnung kleiner zu sein als meine bisherige“, sagt die Mutter. Dennoch wolle sie sich die Wohnung zuerst einmal anschauen.
Darauf angesprochen entgegnen sowohl Fabio Marochi als auch Mandy Ragni, dass auch hier nach einer Lösung gesucht werden könne. Beide boten Claudia Eischen das Gespräch an. Von den anderen Familien habe Eischen gemischtes Feedback bekommen: „Einige waren sehr zufrieden mit ihrer neuen Unterkunft, andere eher weniger“, sagt sie. Zum Beispiel die Nachbarn, die keine Einbauküche in der neuen Wohnung hatten und sich selbst eine kaufen mussten. Mandy Ragni habe von diesen Beschwerden noch nichts gehört, sagt sie. „Wenn es Probleme gibt, finden wir eine Lösung. Meine Tür steht immer offen“, garantiert die Sozialschöffin.
Die LSAP hatte den Kauf des Hauses im vergangenen Gemeinderat als einzige Partei nicht mitgestimmt, das obwohl sie mit der Strategie einverstanden ist. Das Argument: Sie wolle es nicht unterstützen, dass Menschen aus dem Haus ausziehen müssen, damit das Projekt Abrisud dort entstehen kann. Ein weiterer Kritikpunkt der LSAP war, dass das Vorhaben mit 6,2 Millionen Euro zu teuer wäre. Mandy Ragni hält dagegen. Das Projekt, das ihre Vorgänger für den Abrisud vorgesehen hatten, hätte 5,5 Millionen Euro gekostet. „Die Unterkunft war allerdings nur halb so groß und das ist zwölf Jahre her. Heute würde dieses Projekt auch nicht mehr für den Preis umgesetzt werden können“, sagt sie.
Das Projekt Abrisud
Mandy Ragni hatte die Machbarkeitsstudie des Abrisud in der letzten Gemeinderatssitzung vorgestellt. Das finale Projekt sei auch schon in der Ausarbeitung, sagte sie. In der rue de la Fontaine stehen dem neuen Abrisud künftig 1.200 Quadratmeter zur Verfügung. Dort soll ein Essensraum mit großer pädagogischer Küche und ein Gemeinschaftsraum entstehen. Das ganze Gebäude wird behindertengerecht gestaltet und es sollen zwei behindertengerechte Zimmer mit Badezimmer entstehen. Insgesamt sollen 25 Betten für Obdachlose geschaffen werden, zum Teil in Einzelzimmern, zum Teil in Doppelzimmern oder Schlafsälen. Im dritten Stockwerk soll das Personal Büroräume sowie ein Zimmer mit zwei Betten bekommen. Weil die Nutzung von zwei Zimmern noch nicht festgelegt wurde, könne auch die Bettenzahl noch auf 30 erhöht werden. Im oberen Stockwerk soll auch ein Krankenzimmer entstehen, in dem „médecins du monde“ ihre Untersuchungen anbieten können.
Das Abrisud an sich bietet Obdachlosen eine kurz- und eine mittelfristige Lösung. Dort können sie hinkommen, wenn sie einen Schlafplatz brauchen, ohne viel Papierkram ausfüllen zu müssen. Auch Hunde sind erlaubt und die Obdachlosen können kommen und gehen, wann sie wollen. Mittelfristig sollen sie sich dort für die Zeit niederlassen können, die sie brauchen, um sich ein Leben aufzubauen. „Bisher durften sie nur sechs Monate bleiben. Im neuen Haus soll die Zeit, die sie bleiben dürfen, von Fall zu Fall festgelegt werden. Das darf dann auch mal länger sein“, so Ragni.
Auf den restlichen 300 Quadratmetern des Hauses sollen vier Gemeindewohnungen entstehen, die nach dem Konzept „housing-first“ genutzt werden. Dieser Teil des Hauses stellt die langfristige Lösung der Stadt dar. Demnach werden Menschen dort untergebracht, die sich in einer kritischen Lebenssituation befinden. „Sie werden erst dort untergebracht und dann wird geschaut, wie ihre Privatsituation verbessert werden kann“, so Ragni.
Das Projekt schlägt mit 6,2 Millionen Euro zu Buche, wovon das Familienministerium wohl 3 Millionen Euro finanzieren wird. Auch das Wohnungsbauministerium wird 25 Prozent der Kosten für die vier Gemeindewohnungen übernehmen. Auf ein Datum, an dem das Projekt fertiggestellt sein soll, will sich die Sozialschöffin aufgrund der aktuellen Krisensituation nicht festlegen. „Ich würde mich freuen, wenn das Abrisud in anderthalb Jahren umziehen kann“, sagt sie.
Die Zeit drängt, denn in den Containern, in denen sich die Unterkunft für Obdachlose derzeit befindet, gebe es seit zwei Jahren ein Schimmelproblem. Außerdem müssten wichtige Gespräche aus Platzmangel regelmäßig im Wohnzimmer geführt werden, wodurch die Privatsphäre der Menschen gefährdet sei. Behindertengerecht sei die aktuelle Einrichtung auch nicht. „Wir müssen der katastrophalen Situation schnellstens ein Ende setzen“, sagte Ragni.
Sie fügte noch hinzu, dass die Streetworker der Stadt Esch im Herbst ein neues Büro im ehemaligen Sitz des „Office de tourisme“ bekämen. Dieses diene dann gleichzeitig als Anlaufstelle für Obdachlose – aber auch für Bürger, die ihre Sorgen und Anliegen dort direkt an die Streetworker herantragen können.
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