Uni.lu / Kriegserinnerungen in Luxemburg: Aufruf erhört, Arbeit geht weiter
„Wir suchen bislang unveröffentliche Zeitdokumente, anhand derer wir individuelle Kriegserfahrungen erforschen können!“ Mit diesem Appell gingen die Historiker des Zentrums für digitale Geschichtserforschung (C2DH) im Februar dieses Jahres ans Publikum. Die Antworten haben sie überwältigt.
„Ich habe tagelang nichts anderes gemacht, als Briefe, Mails und Telefonanrufe zu beantworten“. Acht Monate nach dem Appell ans Publikum ist Michel R. Pauly noch immer beeindruckt. Mehr als 200 Antworten hat das Forscherteam um Dr. Nina Janz auf seine Aufforderung zur Mitarbeit bekommen. Es waren Briefe, Fotoalben und Tagebücher. Eine Handvoll Veteranen hatte sich ebenfalls gemeldet, unter den aktuellen Gesundheitsbeschränkungen war es jedoch nicht möglich gewesen, längere Interviews zu machen.
„Viele Nachkommen wussten zwar von den Tagebüchern, die sie uns zukommen ließen, hatten sie jedoch bis dahin selbst nicht gelesen“, gewährt Michel R. Pauly Einblick in die gesammelten Schätze.
Herzstück ist ein Koffer mit 871 Briefen. Anderthalb Monate lang haben Pauly und ein eigens für diese Arbeit verpflichteter Assistent die Dokumente gelesen, ausgewertet und klassiert. Sie erzählen die Geschichte von Jean-Pierre (Jempi) Hirt. Er selbst hatte aus seinem Schicksal nie ein Geheimnis gemacht, er hat in einer Veröffentlichung des „Groupe de recherche et d’études sur la Guerre 1940-1945“ und als Mitglied des „Comité Remembrance Day“ mehrfach darüber berichtet.
Aus dem Koffer mit den zahlreichen Briefen und den vielen fliegenden Einzelblättern geht jedoch auch hervor, was seine Familie dachte und spürte, wie sie damit umging, dass der älteste Sohn in der verhassten Uniform steckte. Sie erzählen vom Cousin aus dem gegenüberliegenden Haus, der ein „Gielemännchen“ war und nach jedem Heimaturlaub akribisch darauf achtete, dass Jempi wieder an die Front zurückkehrte. Nach dem Krieg sei der verwandtschaftliche Kontakt abgebrochen.
Nach seiner Rückkehr ist Jempi Hirt nie wieder verreist. „Er hat Ettelbrück nur ungern und nur in Ausnahmefällen verlassen“, hat seine Tochter den Historikern bei der Aushändigung des Koffers erzählt. Geheiratet hatte ihr Vater erst, nachdem er sich eine Existenzbasis und ein Haus für seine künftige Familie aufgebaut hatte.
Lebensgeschichten
Mehr als 70 Briefe von Jean-Pierre Hirt an seine Familie haben die Historiker für ihre Arbeit zuerst entziffert. Sie haben aber auch Postsendungen seines Bruders Mischi ausfindig gemacht sowie mehrere Schreiben an eine Unbekannte. – Freundin oder Kusine? Dieses Geheimnis hat der Koffer nicht preisgegeben.
Dafür hat ein ungeöffneter Brief von Hirt an einen Freund oder Verwandten die Forscher ebenfalls beeindruckt. Er war zurückgekommen, weil der Empfänger inzwischen gefallen war.
„Wir haben den Atem angehalten, als wir ihn geöffnet haben“, sagt Pauly. Natürlich hatte er dafür im Voraus grünes Licht von Hirts Tochter bekommen. Sie hatte den Koffer mit den Zeitdokumenten jahrelang aufgehoben, sich jedoch nie intensiv mit dem Inhalt beschäftigt.
Das kann sie nachträglich noch tun: Der Koffer ist nämlich nur eine Leihgabe, die Uni untersucht die Dokumente und wertet sie aus, es ist jedoch nicht ihre Aufgabe, diese zu archivieren oder zu verwahren: „Das machen Museen und Dokumentationszentren“, so Nina Janz.
Emotionen
Neben dem Koffer aus Warken wurde den Forschern ebenfalls eine Akte mit 600 Briefen aus Bettemburg zugetragen. Es handelt sich dabei um die Schreiben der Bettemburger Zwangsrekrutierten an Valérie Steichen. Sie war die Zeitungshändlerin und wusste nicht nur über alles und jeden bestens Bescheid, sondern konnte gewisse Nachrichten auch weiterleiten.
Beeindruckt waren die jungen Historiker auch über einige Funde in den Briefen, ganz besonders, als zwischen den Seiten eines Tagebuches Goldmünzen aus der Vorkriegszeit auftauchten, wahrscheinlich der Notgroschen eines Rekruten. Auch diese Entdeckung geht selbstverständlich an die Besitzer zurück.
In einer weiteren Etappe ihrer wissenschaftlichen Arbeit müssen die Forscher jetzt die einzelnen Dokumente analysieren, überprüfen, mit anderen Quellen wie z.B. den Gestapo-Akten vergleichen, bevor sie im März 2023 bzw. 2024 ihre Abschlussarbeiten vorlegen.
Warlux
Die individuellen Erlebnisse der jungen Frauen und Männer, die während der nationalsozialistischen Besatzung in den deutschen Dienst eingezogen wurden, bilden das Herzstück des „Warlux“-Forschungsprogramms des C2DH, das vom nationalen Forschungsfonds FNR mitfinanziert wird und sich über drei Jahre zieht. Dabei steht der einzelne Mensch im Fokus. Analysiert werden seine Beweggründe, seine Strategien und sein soziales Umfeld.
Ursprünglich waren die Nachforschungen punktuell auf Einzelschicksale aus Esch/Alzette, Schifflingen, Echternach, Beckerich, Ulflingen, Weiswampach und Clerf ausgerichtet, um der Diversität der Situationen Rechnung zu tragen und die regionalen Unterschiede klarzustellen. Aus diesen Zielorten sind jedoch nur wenig Dokumente gekommen, sodass die Arbeit hier eine leicht andere Richtung nimmt.
Die Leitung des Projektes untersteht dem beigeordneten Direktor des C2DH, Dr. Denis Scuto, und der Studienleiterin Dr. Nina Janz. Daraus sollen zwei Doktorarbeiten hervorgehen: Michel R. Pauly untersucht die Rekrutierung von Gymnasiasten und den abrupten Wechsel von der Schulbank an die Front. Sarah Maya Vercruysse will herausfinden, wie die Familien mit der Rekrutierung ihrer Söhne oder dem Reichsarbeitsdienst der Mädchen umgingen, bzw. wie die betroffenen Familien ihre Umsiedlung erlebt haben.
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