Gesellschaft / Norry Schneider von CELL zum Projekt „Ernährungsrat“ – und der Angst vor einer Totgeburt
Als Umweltaktivist wird Norry Schneider (45) nicht gerne bezeichnet. Trotzdem kämpft er für eine andere Welt. Bei der NGO „Centre for Ecological Learning Luxembourg“ (CELL) arbeitet er als Koordinator für ökologische und soziale Projekte, zusammen mit Experten der Uni.lu setzt er sich für einen Ernährungsrat in Luxemburg ein. Die Räte sollen das Ernährungssystem in Luxemburg anders denken: umweltgerechter, ganzheitlicher und vor allem lokaler. Eine Gesetzesvorlage dazu ist auf dem Weg und die Befürchtung ist groß, das Gremium werde ein zahnloser Tiger.
Tageblatt: Warum ist ein Ernährungsrat so wichtig?
Norry Schneider: In der Zivilgesellschaft merken viele, dass mit unserem Ernährungssystem etwas nicht stimmt. Das war schon vor der Pandemie so, aber das hat sich seitdem verstärkt. Der Ernährungsrat bringt alle wichtigen Akteure an der Lebensmittelproduktion endlich an einen Tisch, und zwar nicht aus der Perspektive eines Bittstellers, sondern als Gruppe. Er will die Regierung auffordern, den Anschluss nicht zu verlieren, und dabei helfen, etwas zu ändern – auf Augenhöhe.
Glauben Sie, dass Sie Gehör finden?
Da gebe ich einen Vertrauensvorschuss an die Politik. Die Hardliner, die blockieren, geraten meiner Meinung nach mehr und mehr in die Minderheit. Als Kollegen der Transition-Bewegung das solidarische Landwirtschaftsprojekt „Terra“ in der Stadt initiiert haben, wurden wir ohne Landbesitz und Finanzierung als Träumer bezeichnet. Über Aufrufe haben wir innerhalb kürzester Zeit Mitglieder gefunden und 1,5 Hektar Land pachten können. Der Obst- und Gemüsegarten ernährt heute über 200 Familien und mittlerweile gibt es zehn solcher Initiativen.
Was sind denn Gründe für einen Ernährungsrat?
Heute wird ein Drittel der Nahrungsmittel, die produziert werden, weggeworfen. Da blutet auch das Bauernherz. Es ist deren Arbeit, das zu produzieren. Es kann nicht sein, dass wir beim Einkauf die Wahl zwischen einer Kartoffel aus Neuseeland und einer aus lokaler Produktion haben. Die neuseeländische hat wegen des Transportweges einen großen ökologischen Fußabdruck. Beim Saatgut herrschen Hybridsorten vor, die nur einjährig sind. Sie sind von der Industrie genetisch bearbeitet. Früher hat man einen Teil der Ernte dazu benutzt, Saatgut für das nächste Jahr zu produzieren.
Warum ist das Saatgut so wichtig?
Weil wir hier eine Vielzahl von lokalen Sorten haben, die mit unserem Klima klarkommen. Wir könnten uns also auch an sich verändernde Temperaturen anpassen. Das schaffen wir aber nicht, wenn wir nur eine Sorte Mais anbauen, nur zwei Sorten Kartoffeln oder drei Sorten Bohnen. Die Kontrolle über das Saatgut ist ein extrem revolutionärer Akt. Aber ein friedlicher.
Der Ernährungsrat setzt sich für Ernährungssouveränität ein. Was heißt das?
Man übernimmt als Mensch wieder die Kontrolle über das, was schlussendlich auf dem Teller landet. Das beginnt nicht erst im Ladenregal, sondern schon auf dem Acker.
Was ist der erste Schritt dahin?
Eine Bestandsaufnahme unserer Lebensmittelproduktion. Der Überblick über Produzenten, Vermarktungs- und Verarbeitungsstrukturen, Gemeinschaftskantine sowie die Meinung der Gastronomie und der Gemeinden fehlt bislang. Genauso wie ein runder Tisch, an dem alle Beteiligten zusammenkommen, Wissen austauschen und sich vernetzen.
Dabei geht es auch um Umweltschutz. Als Umweltaktivist werden Sie aber nicht gerne bezeichnet, warum?
Mit Umweltaktivist wird immer gerne assoziiert, dass wir gegen die Landwirte sind. Das ist aber überhaupt nicht so. Ich habe vielmehr einen Riesenrespekt, ob konventionell oder biologisch, vor der Arbeit, die Bauern täglich leisten. Wir als Gesellschaft müssen zusammen mit den Landwirten das Problem fallender Grundwasserspiegel, des Bodens, des Klimaschutzes lösen. Wie können wir dir helfen, es zukünftig anders zu machen, ist die Frage. Grabenkämpfe bringen gar nichts.
Sie haben am Konzept eines Ernährungsrates in Luxemburg mitgearbeitet. Warum ist das Kölner Modell ein Vorbild für Sie?
Der Kölner Ernährungsrat funktioniert und hat als erster in Deutschland die meiste Erfahrung. Wir haben die Räte persönlich kennengelernt, die aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammenkommen und an neuen Ernährungsstrategien arbeiten. In Arbeitsgruppen bringen sie Themen wie urbane Landwirtschaft, essbare Stadt oder Regionalvermarktung, Ernährungsbildung und Gemeinschaftsverpflegung sowie Gastronomie und Lebensmittelhandwerk auf den Tisch.
Der Ernährungsrat steht im Regierungsprogramm. Sie haben zusammen mit der Uni.lu viel Vorarbeit geleistet. Und jetzt?
Jetzt liegt ein Gesetzestext aus dem Landwirtschaftsministerium kurz vor dem Instanzenweg und wir kennen die letzte Version nicht. Wir sind nach der Einsicht eines ersten Entwurfs im Juli 2020 bei den letzten Schritten außen vor geblieben und befürchten, dass wichtige Teile fehlen. Wir haben außerdem den Eindruck, dass der Ernährungsrat jetzt im üblichen „Von oben nach unten“-Verfahren entsteht. Wir wissen auch nicht, ob und wie weit unsere Empfehlungen vom August 2020 eingeflossen sind.
Das ist frustrierend …
Wir stören uns vor allem am Prozess, wie es gelaufen ist. Wir haben viel Vorarbeit geleistet, sie wurde genommen und uns wurde gesagt, wir melden uns. Dann kam aber nichts. Wir bemängeln Transparenz, mangelnde Beteiligung und Respekt vor unserer Arbeit.
Was befürchten Sie noch?
Dass der Ernährungsrat zum Erfüllungsgehilfen wird und nicht nach seiner Gründung auf Augenhöhe mit der Politik zusammenarbeitet – so wie der Nachhaltigkeitsrat. Dieser berät die Regierung auf Anfrage und kann sich selbstbestimmt einem Thema annehmen. Das ist sehr, sehr wichtig, weil es oft Themen sind, die vielleicht gerade nicht auf dem Schirm von Politik und Verwaltung sind
Das sind kritische und nachdenkliche Aussagen. Was ist denn Ihre Vision? Ihre persönliche?
Ich finde generelle rotierende Systeme gut. Das zwingt Mandatsträger – egal auf welcher Ebene – zu einer gewissen Rechenschaft und Aktivitäten, die sich messen lassen. Und ich frage mich, ob so große Länder wie Frankreich oder Deutschland noch regierbar sind oder ob die Region nicht die bessere geografische Einheit ist. Eng miteinander verzahnt können sie bezogen auf das Ernährungssystem andere Ernährungsräte in der Großregion zusammenbringen und haben Gewicht. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Nach dem neuesten Bericht des Weltklimarates weiß jeder, es eilt.
Vorbild: Ernährungsrat in Köln
Der Kölner Ernährungsrat geht im März 2016 an den Start. Er ist – ähnlich wie der luxemburgische – eine Initiative der Zivilgesellschaft und gilt den Initiatoren im Großherzogtum als Vorbild. Gegründet wird er aus dem Wissen, dass mit dem existierenden Ernährungssystem etwas nicht stimmt. „Kleine regionale Lebensmittelerzeuger und -verarbeiter gehen kaputt und großen, mächtigen Konzernen wird das Feld überlassen“, sagt Clara Dorn (31), Geschäftsführerin des Kölner Ernährungsrates mit inzwischen sieben Mitarbeitern. „Wir haben kaum mehr Molkereien oder Metzgereien, Mühlen und Höfe schließen, weil es keine lokalen Lösungen gibt.“ Das ist auch im Nachbarland nicht unbekannt. Hinzu kommt, dass nach Angaben des Weltklimarates 23 Prozent der Treibhausgase aus dem Lebensmittelsystem stammen. Außerdem können sich viele Menschen hochwertige Lebensmittel nicht leisten. „Dahinter steckt eine riesige soziale Frage“, sagt Dorn.
Der Erfolg des Kölner Ernährungsrates beruht auf der Mission, nicht reine Oppositionspolitik zu machen, sondern eng mit den Ebenen der Stadtverwaltung zusammenzuarbeiten. „Die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass das die langfristig erfolgreichere Strategie ist“, sagt Dorn. Zusammen mit Politik und Verwaltung werden Projekte für bezahlbares, umweltverträgliches und von lokalen Erzeugern hergestelltes Essen initiiert und umgesetzt. Ein erster Erfolg ist die gemeinsame Erarbeitung von verbindlichen Leitlinien zur zukünftigen Ernährung der etwas mehr als eine Million Einwohner von Köln. Die 2019 veröffentlichten Leitlinien klären unter anderem Fragen zur Produktion der Lebensmittel, zur Ernährung in Gemeinschaftsküchen wie Kantinen, Altenheimen oder Kindertagesstätten und Schulen. Es geht um die Ernährungspolitik der Stadt Köln und eine Haltung in den Bereichen Lebensmittelabfall und Lebensmittelmärkte, gemeinschaftliches Gärtnern oder landwirtschaftliche Produktion. Das ist nur ein Auszug aus einer langen Liste. Der Kölner Ernährungsrat ist der erste und damit älteste in Deutschland, der sich am Vorbild der US-amerikanischen „Food Policy Councils“, die sich ab 1980 gründen, orientiert. Er ist ein Verein, was in Luxemburg einer ASBL entspricht, und finanziert sich über kommunale Zuwendungen der Stadt Köln, Stiftungsgelder und Projektgeldern aus dem Landwirtschafts- und Wirtschaftsministerium in Berlin (D). Im Saarland hat sich im August 2018 ein Ernährungsrat gegründet.
Antworten aus dem Landwirtschaftsministerium
Auf Anfrage des Tageblatt bestätigt das Landwirtschaftsministerium, dass ein Gesetzestext zum Ernährungsrat vorliegt. Er soll in den nächsten Tagen der zuständigen Chamberkommission vorgestellt werden. Nähere Angaben zum Inhalt wie Rolle und Start des Gremiums oder Anzahl der Räte lehnt das Ministerium mit Hinweis auf eine geplante Pressekonferenz zum Thema ab. Sie soll in Bälde stattfinden.
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