Luxemburg / „Die Chafea hat Symbolcharakter“: Europäische Exekutivagentur wird aufgelöst
Die Geschichte um die europäische „Exekutivagentur für Verbraucher, Gesundheit, Landwirtschaft und Lebensmittel“ (Chafea) ist eine, die weitreichende Konsequenzen für Luxemburg haben könnte. Es geht um den Standort als Sitz europäischer Institutionen. Die Vorgehensweise der Europäischen Kommission wirkt – gelinde gesagt – rücksichtslos. Gewerkschaftler reiben sich die Augen und den rund 85 Chafea-Mitarbeitern bleiben drei Monate Zeit, ihr Leben umzuorganisieren.
Tamara Mueller* arbeitet seit mehr als zehn Jahren bei der „Consumers, Health, Agriculture and Food Executive Agency“ (Chafea). Die europäische Agentur hat seit 15 Jahren ihren Sitz in Luxemburg. Das ist praktisch seit ihrer Existenz in Luxemburg. „Wir hätten dieses Jahr unser 15-jähriges Bestehen gefeiert“, sagt sie. Daraus wird nichts, denn ihr kollegiales Umfeld und ihr Büro wird es zum 31. Dezember dieses Jahres nicht mehr geben.
Mueller hat einen unbefristeten Arbeitsplatz, sich im Land eingelebt, ihre Kinder besuchen die Europaschule auf Kirchberg. Sie ist angekommen im Multikulti der Community der EU-Mitarbeiter in Luxemburg. Von denen gibt es nach Angaben der „Union syndicale Luxembourg“ (USL) insgesamt rund 11.000 im Land. Die Gewerkschaft vertritt die Interessen dieser Menschen im Land und hat rund 1.000 Mitglieder.
Überfallartige Abwicklung
Es geht sehr schnell. Mitten im Lockdown, Anfang April, erfahren die 85 Chafea-Mitarbeiter per Videokonferenz von den Plänen, die Agentur aufzulösen. Der Unmut darüber ist Mueller noch heute anzumerken: „Im Gegenteil, in den letzten drei Jahren wurde uns immer versprochen, das die Chafea auf 250 Stellen wachsen werde.“
Fünf Monate später, Anfang Oktober, folgt ein Brief der Abteilung „Human Resources“ der Europäischen Kommission. Darin erfahren die Mitarbeiter, dass sie auf andere Exekutivagenturen in Brüssel aufgeteilt werden. Die, die das wollen. Für alle anderen endet der Arbeitsvertrag zum 31. Dezember mit einer zweimonatigen Auflösungsfrist.
Als Gründe sind hauptsächlich drei im Umlauf: mangelnde Effizienz der Chafea, kurze Wege zur Kommission in Brüssel und die hohen Lohnkosten für die Mitarbeiter in Luxemburg. Bei genauerer Prüfung klingen sie jedoch fadenscheinig. Die mangelnde Effizienz wird mit einer Kosten-Nutzen-Analyse begründet, die durchgeführt wurde. „Von uns hat das Papier noch keiner gesehen“, sagt Mueller.
Fadenscheinige Argumente
Das Argument der kurzen Wege ist ebenfalls nicht nachvollziehbar. „Der Großteil der Direktion für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, mit denen wir täglich Kontakt haben, sitzt hier in Luxemburg“, sagt die Chafea-Mitarbeiterin. „Wenn wir in Brüssel sitzen, müssen wir dann nach Luxemburg telefonieren.“
Auch das Argument der höheren Lohnkosten für die 85 Mitarbeiter klingt bei genauerem Hinsehen herbeigezogen, „Die meisten von uns sind alle keine Beamten, sondern Angestellte der EU“, sagt Mueller. „Die Gehälter bei uns sind genau die gleichen wie die unserer Kollegen in Brüssel.“
Das bestätigt die USL. „In Luxemburg gibt es keine Zulagen für EU-Mitarbeiter genauso wenig wie in Brüssel“, sagt Miguel Vicente Nuñez (67). Der Vollblutgewerkschaftler ist seit fünf Jahren Präsident der „Union“. Für EU-Mitarbeiter in Stockholm beispielsweise gibt es wegen der hohen Lebenshaltungskosten einen Zuschlag von 28 Prozent auf das Gehalt, für Kopenhagen sogar 32 Prozent.
Allerdings ist die „ancienneté“, die Betriebszugehörigkeit, bei der Chafea hoch. Das spielt bei Abfindungen – je nachdem, was der Kollektivvertrag sagt – eine Rolle. Verhandelt wurde darüber bislang jedoch noch nicht. Bei der USL herrscht Verärgerung. „Bis jetzt gibt es noch nicht mal einen Sozialplan geschweige denn einen Sozialdialog“, sagt der Präsident der Gewerkschaft Nuñez. „Für die, die aus privaten Gründen nicht nach Brüssel wollen oder können, könnte ja bei anderen EU-Institutionen im Land ein Posten gesucht werden.“
Kein Sozialplan bis jetzt
Das wäre bei anderen Abteilungen der Kommission, dem Europäischen Rechnungshof, dem Europäischen Gerichtshof, dem Parlament, der Europäischen Investitionsbank oder dem Übersetzungsdienst. „Die EU ist nach dem Staat der größte Arbeitgeber hier im Land“, stellt Nuñez klar. Noch widersprüchlicher wird die Abschaffung der Chafea angesichts der Aufgaben, die sie hat.
Als eine der sechs Exekutivagenturen der Kommission setzt sie in den Bereichen Gesundheit, Landwirtschaft, Konsumentenschutz und Lebensmittelsicherheit Förderprogramme in den EU-Mitgliedstaaten um. Sie verteilt das von Brüssel bewilligte Geld für die ihr zugedachten Bereiche, macht Ausschreibungen, redigiert diese, bewilligt Anträge. „Wir haben gerade die größte Gesundheitskrise weltweit und gleichzeitig wird die Agentur, die die Förderprogramme in puncto Gesundheit umsetzen soll, geschlossen“, sagt Chafea-Mitarbeiterin Mueller.
Die Dimensionen des Vorhabens gewinnen noch mehr an Fahrt vor dem Hintergrund der jüngsten Beschlüsse der 27-EU-Staatschefs. Beim letzten EU-Gipfel vom 17. bis zum 21. Juli wurde beschlossen, was schon länger in der Diskussion war. Die Gelder für die Unterstützung von Gesundheitsprogrammen werden für die Jahre zwischen 2021 und 2027 erheblich aufgestockt. Das ist den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates nach dem Gipfel zu entnehmen.
„Im Einklang mit dem Vorschlag der Kommission für die Reaktion auf Covid-19 werden die Mittel für das Gesundheitsprogramm auf 1,7 Milliarden Euro aufgestockt“, heißt es dort auf Seite 8. Bisher hat die Chafea mit einem Gesundheitsprogramm von rund 450 Millionen Euro Budget für die Jahre zwischen 2014 und 2020 gearbeitet. Entschieden ist es noch nicht, das EU-Parlament muss noch zustimmen.
Angesichts dieser Schlussfolgerungen hätte es nahegelegen, die Chafea personell zu verstärken, anstatt sie abzuschaffen. Das mahnt das luxemburgische Parlament in einer Resolution vom 9. Juni genauso an wie die Gewerkschaft USL, die im Übrigen das Vorgehen der Kommission gegenüber den Chafea-Mitarbeitern in mehreren Schreiben Richtung Brüssel scharf kritisiert. Der entsprechende Schriftverkehr liegt der Redaktion vor.
Viel Geld im Spiel
Kritik verdient auch die Tatsache, dass die luxemburgische Regierung von all dem nicht und erst viel später offiziell informiert wurde. In dem Zusammenhang spielt es eine Rolle, wer der Entscheider ist, nämlich die Europäische Kommission „herself”. All das erhärtet den Verdacht, bei der Chafea-Entscheidung sei viel Geld im Spiel und Aktionismus, um Neuem Platz zu schaffen zuungunsten Luxemburgs.
Sechs Agenturen darf die Kommission haben, fünf davon sind in Brüssel angesiedelt, als sechste die Chafea in Luxemburg und gemessen an der Mitarbeiterstärke die kleinste von allen. Um die neue „Agentur für Innovationen“ aufzubauen, musste eine weg. Dafür braucht es keinen Rechenschieber.
Und Mueller, wie geht sie damit um? „Für mich und meine Kollegen bedeutet das, dass wir innerhalb von wenigen Monaten unser Leben umorganisieren müssen“, sagt sie. „Viele haben eine Immobilie gekauft, viele Ehepartner arbeiten ebenfalls in Luxemburg, müssen neue Schulen für die Kinder finden, und das unter Covid-19-Bedingungen.“ Das bisherige Mandat der Chafea, die Programme in den vier Bereichen umzusetzen, hätte nach Muellers Angaben erst 2024 enden sollen.
Die USL befürchtet als Gewerkschaft noch etwas ganz anderes. „Die Chafea hat Symbolcharakter“, sagt USL-Präsident Nuñez. „Hier werden einseitig von Brüssel Vereinbarungen mit Luxemburg aufgekündigt.“ In Nuñez’ Augen ist das ein Präzedenzfall, der Gefahren in sich birgt. Hinzu kommt: „Luxemburg läuft Gefahr, an Attraktivität für EU-Institutionen zu verlieren“, sagt der Gewerkschaftler.
Nicht nur, weil die Chafea kurz vor der Abschaffung steht, sondern weil das Land mangels ausreichend Wohnraum und hoher Lebenshaltungskosten für EU-Mitarbeiter immer uninteressanter wird. Die USL kämpft schon länger für eine Ausgleichsprämie für das in Luxemburg beschäftigte Personal. So wie es das für EU-Beschäftigte in Stockholm oder Kopenhagen gibt. Bislang ohne Erfolg.
* Der Name wurde von der Redaktion geändert.
EU-Institutionen in Luxemburg
Die Ansiedelung der Chafea geht auf einen „Deal“ mit Brüssel zurück. 2003 wird mit dem Abkommen zwischen der damaligen Außenministerin Lydie Polfer (DP) und dem damaligen Vizepräsidenten der EU-Kommission Neil Kinnock (Labour Party) die Chafea als Ausgleichsmaßnahme ins Leben gerufen. Die Kommission beschließt, die Direktion „Sante“ zu reorganisieren und teilweise nach Brüssel zu verlegen. Im Gegenzug bekommt Luxemburg die Exekutivagentur. Der „Deal“ hat historische Wurzeln. Der 1965 in Brüssel unterzeichnete „EG-Fusionsvertrag“ schafft nicht nur den Europäischen Rat, sondern auch die Europäische Kommission. Ein Zusatzprotokoll legt den Sitz der Institutionen zwischen Brüssel, Straßburg und Luxemburg fest. Darin wird Luxemburg als Sitz der Europäischen Investitionsbank (EIB), des Rechnungshofes, des Gerichtshofes und verschiedener Dienststellen der Europäischen Kommission festgelegt. Auf den Seiten der EU findet sich das aktuelle Organigramm zur Organisation des Bereichs Gesundheit. Demnach sitzt in Luxemburg aktuell das Direktorat C für öffentliche Gesundheit mit rund 75 Mitarbeitern. Es koordiniert die Gesundheitsberichterstattung, grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren (inklusive der Covid-19-Taskforce), sowie Prävention und Gesundheitsförderung. Die EU-Generaldirektionen arbeiten dem jeweiligen Kommissar in Brüssel zu. Das Abkommen zwischen dem aktuellen Außenminister Jean Asselborn (LSAP) und der damaligen Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Kristalina Georgieva erneuert den Willen der Kommission zur Präsenz in Luxemburg, die sogar noch ausgebaut werden soll. Georgieva einigt sich im Jahr 2015 mit Asselborn darauf, die Anwesenheit der Europäischen Kommission in den Bereichen Digitales, Finanzen und Recht noch weiter auszubauen sowie die Chafea mit weiteren EU Programmen zu beauftragen und personell aufzustocken. Mehr Infos: ec.europa.eu/info/sites/info/files/organisation_charts/organisation-chart-dg-sante_en.pdf.
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Kee Problem, daat helleft eisen Wunnungsproblem besgen ze entschaerfen !
@Nomi: Wie bitte? Als ob 85 Familien die umsiedeln müssen das Wohnungsproblem in Luxemburg lösen würden… Sie sollten sich schämen, solchen Unsinn zu schreiben.