/ Der katalanische Knoten: Vor den zweiten Parlamentswahlen in einem Jahr bleibt das Problem dasselbe
Die Spanier wollen eine neue Regierung. Aber das wollten sie auch im April schon. Zu einer Koalition kam es nach den Wahlen nicht. Am Sonntag soll nun alles anders, klarer werden. Doch die Zeichen stehen schlecht, eine stabile Mehrheit in Madrid ist nicht in Sicht. Das hat viel mit Katalonien zu tun, mit den Bestrebungen nach Unabhängigkeit – und mit den Reaktionen des spanischen Staates darauf. Die Lage ist kompliziert, ein Blick auf die einzelnen Akteure bringt etwas Licht ins Dunkel.
Die Katalanen sind gespalten. Das ist auch schon alles, was sich mit letzter Gewissheit behaupten lässt: Knapp die Hälfte unterstützt die Unabhängigkeitsbestrebungen, knapp die Hälfte ist dagegen. Wird nicht nur nach einem Dafür oder Dagegen gefragt, sondern verschiedene Optionen wie mehr Autonomie, eine neue spanische Verfassung, ein unabhängiger Staat oder ein Staat innerhalb eines föderalen Spaniens angeboten, teilen sich die Antworten bereits auf.
Das drückt sich auch in der katalanischen Politik nieder – und die hat einen großen Einfluss auf Spaniens politische Führung. Die letzte spanische Regierung, die im vergangenen Februar aufgelöst wurde, bestand aus einer Koalition unter der sozialdemokratischen PSOE zusammen mit der linken Podemos sowie kleineren baskischen beziehungsweise katalanischen Regionalparteien. Auch nach der Wahl am Sonntag könnte eine solche Konstellation wieder die einzig mögliche Mehrheit bilden.
Doch nach den Urteilssprüchen durch Spaniens Obersten Gerichtshof Mitte Oktober ist alles anders, nicht nur in Katalonien, sondern in ganz Spanien. Gegen neun katalanische Politiker wurden teils lange Gefängnisstrafen verhängt. Für Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung ein Skandalurteil – für große Teile von Spaniens Rechten, die sich noch härtere Strafen gewünscht hätten, allerdings ebenso.
Alle haben gelogen, ein Zurück ist jetzt schwer
Der spanische Politologe José Fernández vom „Instituto de Políticas y Bienes Públicos“ spricht gegenüber dem Tageblatt von einer weiter gestiegenen Polarisierung, die ihm Sorgen mache. Auf die Urteile folgten Demonstrationen, die erstmals in Gewalt umschlugen. Die Wahrnehmung von dem, was da geschehen ist, sei eine vollkommen andere in Spanien als in Katalonien, sagt Fernández. „Die einen sehen in den Demonstranten Terroristen, die anderen nennen Spanien einen autoritären Staat.“
Aus diesen entgegengesetzten Auffassungen ein und derselben Sache wieder zurück zu einem Dialog zu finden, dürfte schwer werden. Dabei sei eine Lösungsfindung aber nur über Gespräche möglich, sagt der italienische Politologe Steven Forti, der an der Universität in Barcelona lehrt. Doch um Gespräche führen zu können, braucht es ebenso Klarheit in Katalonien. Die beiden großen katalanischen Unabhängigkeitsparteien, die konservative Junts per Catalunya und die Esquerra Republicana de Catalunya, die sich links der Mitte verortet, bilden zwar eine gemeinsame Regierungsallianz, seien aber untereinander derart zerstritten, dass der offene Bruch nur eine Frage der Zeit sei.
Beide hätten keine klare Strategie, sagt Forti, und beide hätten ihre Anhänger seit Jahren belogen. „Die Menschen bekamen so lange zu hören, eine Unabhängigkeit jetzt und sofort sei möglich, bis sie daran glaubten – dabei war das nie der Fall.“ Doch um die Gunst der Wähler für sich zu gewinnen, hätten sich beide in den vergangenen Jahren damit bekriegt, wer der bessere Separatist beziehungsweise der größere Verräter sei.
Dabei gibt es durchaus Unterschiede zwischen beiden Gruppierungen. Junts würde Forti eher als Organisation denn als Partei verstehen. Es sei vielmehr die Weiterentwicklung der alten katalanischen christdemokratischen Convergència Democràtica de Catalunya, die insgesamt fast 30 Jahre an den Hebeln saß.
Doch Junts habe nicht mehr viel gemein mit ihrer Ursprungspartei, sagt Forti, der Junts als rechts beschreibt, mit neoliberalen Zügen und gleichzeitig einer nationalpopulistischen Ausrichtung, die ebenfalls mit zum Teil linkspopulistischer Rhetorik zu punkten versucht.
Es gebe zwar einen moderaten Flügel, die Spitze um Quim Torra und den ins belgische Exil geflüchteten Carles Puigdemont sei aber „radikaler, unnachgiebiger“ und schließe unilaterale Schritte nicht aus. „Von der politischen Eindeutigkeit her ein absoluter Albtraum“, sagt Forti, der nicht voraussagen kann, welche Richtung Junts in zwei, drei Jahren eingenommen haben wird. In Katalonien sei gerade „alles in Bewegung“.
Die Katalanen kleinzuhalten, kostet Spanien viel
Was auch für die Esquerra gilt, die zwar einen pragmatischeren Ansatz verfolgt als die Junts, deren Parteispitze stärker auf Dialog setzen will, wo die Basis aber ähnlich zerrissen sei und viel Druck ausübe. Dass beide Parteien gemeinsam zu einer Lösungsfindung beitragen können, halten sowohl Forti als auch Fernández für unwahrscheinlich. Und ohne eine Lösung der Katalonien-Frage leidet auch Spaniens Nationalpolitik weiter.
„Ein Preis, den Spanien zahlt, wenn es die 30 katalanischen Abgeordneten in Madrid von jeder Regierungsbildung ausschließen will, ist die Schwierigkeit, eine stabile Regierung zu bilden“, sagt Fernández. Der spanische Staat habe bewiesen, dass er die Macht hat, die Katalanen kleinzuhalten, aber die Spanier müssten erkennen, dass der Preis dafür zu hoch ist, dass es für ganz Spanien nur einen Ausweg gibt: und zwar miteinander zu sprechen.
Forti sowie Fernández sehen beide ein großes Hindernis in der Blockbildung im katalanischen Parlament, wo Unabhängigkeitsbefürworter zusammen gegen alle anderen regieren. Einziger Ausweg könnten hier vorgezogene Neuwahlen in Katalonien sein, die viele Beobachter für den kommenden Frühling erwarten. Sollte es dazu kommen und die Esquerra stärkste Kraft werden, hoffen Forti und Fernández auf ein Aufbrechen des Blockdenkens und eine progressive Koalition der Esquerra mit den katalanischen Ablegern der PSOE und von Podemos. Sollte es nach den Wahlen am Sonntag in Madrid zu einer von den Sozialdemokraten geführten Regierung kommen, würde das den Weg für einen weiteren Dialog ebenen.
Am Ziel wäre man trotzdem noch lange nicht. Fernández warnt davor, die Konservativen in Spanien aus diesem Dialog herauszuhalten, immerhin sei die Mehrheit der Spanier den Wünschen und dem Vorgehen der Katalanen überdrüssig. Ohne das Einverständnis von Spaniens Rechten ist Fernández zufolge „jede Lösungssuche auf lange Sicht problematisch“. Irgendwann seien auch die Konservativen in Spanien wieder in der Regierung, das müsse bedacht werden. Die progressiven Kräfte könnten den Dialog zwar beginnen und auch weiterführen, aber für ein wirkliches Abkommen müsse zumindest ein Teil der Rechten mit einbezogen werden.
Eine Lösung ohne die Rechten gibt es nicht
Doch das werde nicht einfach, darauf weisen beide Politiker hin und erwähnen die fortgeschrittene Polarisierung in Spaniens Politik und Gesellschaft. Unter den Rechten Spaniens ist bereits seit längerem ein Wettstreit darüber ausgebrochen, wer am härtesten gegenüber den Katalanen auftritt. „Das macht die Sache nicht einfacher“, sagt Fernández.
Der katalanische Knoten scheint demnach noch lange nicht gelöst. Er sitzt so fest, dass sogar Vorschläge wie der von Forti, sich „einfach endlich zusammenzusetzen und zu reden“, schwierig umzusetzen scheinen. Doch was für die katalanischen Politiker gilt, denen vor allem Forti vorwirft, die Wähler an der Nase herumgeführt zu haben, indem ihnen ein uneinlösbares Versprechen gemacht wurde, gilt wohl auch für die nationale Politik in Spanien. „Wir brauchen mutige Politiker“, sagt Forti. „Keine, die nur an ihren eigenen kurzfristigen Erfolg denken“, ergänzt Fernández. Und dazu gehöre eben auch, dass es schlicht und einfach extrem kompliziert ist, eine Antwort auf die Katalonien-Frage zu finden.
Spanien durchlebt zurzeit die größte und komplexeste territoriale Krise seiner demokratischen Geschichte – das, so Forti und Fernández, sollten die Politiker ihren Wählern erklären, statt sie mit vermeintlich einfachen Lösungen gegeneinander aufzuwiegeln. Sonst komme auch Spanien nicht zur Ruhe, noch lange nicht.
Katalonien: Die politischen Akteure im Überblick
Die um die Vorherrschaft kämpfenden Separatisten:
Junts per Catalunya (JxCAT) Wichtigste Personen sind Junts-Chef Carles Puigdemont, der im Exil in Belgien ist, Quim Torra als Präsident der Generalitat und Jordí Sánchez (in Haft). Junts ist aus der alten christdemokratischen CDC hervorgegangen und mittlerweile nach rechts gerückt, mit neoliberalen Zügen, aber auch linkspopulistischer Rhetorik. Junts ist radikaler und schließt auch unilaterale Schritte nicht aus.
Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) Wichtigste Personen sind ihr Chef Oriol Junqueras (in Haft) und Pere Aragonés, Vizepräsident der Generalitat. Aragonés gilt in Madrid als möglicher Partner für einen künftigen Dialog. Die ERC ist eine Mitte-links-Partei. Esquerra ist im Vergleich zu Junts pragmatischer und offener für einen Dialog.
Eine andere separatistische Partei ist die linke, antikapitalistische Candidatura d’Unitat Popular (CUP), die zum ersten Mal bei nationalen Wahlen antritt und damit ein neuer Faktor ist.
Wichtige separatistische Vereinigungen sind die Assemblea Nacional Catalana (ANC) mit Jordí Sánchez und Jordí Cuixart, die beide in Haft sind, und die Graswurzelbewegung Comités de Defensa de la República (CDR).
Parteien, die sich für einen Dialog einsetzen, sind die Partit dels Socialistes de Catalunya (PSC) (war im April auf PSOE-Seite) und Catalunya en Comú/En Comú Podem (ein linkes Bündnis, das sich für ein Referendum einsetzt und für den Föderalismus ist).
Parteien, die gegen die Unabhängigkeit sind: Partido Popular (PP), Ciudadanos (eigentlich liberal, wird aber immer rechter), die extrem rechte Vox, Societat Civil Catalana. Alle sind für den Artikel 155 (also für eine Auflösung der katalanischen Autonomie), für eine Verhaftung Torras und für den Ausnahmezustand.
Hinweis
Die Gespräche mit den Politologen Fernández und Forti fanden in Wien im Rahmen eines von der EU-Kommission geförderten FJUM-Seminars statt.
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Das nennt man nackte Tatsachen mit Ganzkörpereinsatz! 🙂