Exekutivagentur „Chafea“ / Die EU-Kommission verletzt soziale Standards
Was ist eigentlich bei der EU los? Intransparenz, Verletzung von Sozialstandards, mangelnde Kommunikation: Das Ende der Chafea in Luxemburg ist peinlich. Die EU-Exekutivagentur kümmert sich bislang um die Bereiche Gesundheit, Verbraucher, Landwirtschaft und Lebensmittel in den 27 Mitgliedstaaten.
„Die EU-Kommission hat in den 90er Jahren Sozialstandards bei Entlassungen durchgesetzt und hält sich jetzt selbst nicht daran“, sagt Miguel Vicente Nunez (67), Präsident der „Union syndicale Luxembourg“ (USL). „Das ist doch paradox.“ Er ist enttäuscht. Die Gewerkschaft vertritt die rund 10.000 in Luxemburg ansässigen Beschäftigten bei den EU-Institutionen.
Mehr oder weniger hilflos musste die USL dem Treiben rund um die Chafea zusehen, seit im April 2020 bekannt wurde, dass sie geschlossen wird. Informiert hatte die EU-Kommission niemanden, die 85 Beschäftigten wurden vor die Wahl gestellt: entweder ein Umzug nach Brüssel oder aber tschüss!
Immer wieder hat die USL interveniert, Arbeitnehmerrechte eingefordert und sowohl in Brüssel als auch in Luxemburg an die Verantwortlichen appelliert, die Entscheidung zu überdenken. Genauso oft hat die Gewerkschaft Alternativen bei anderen im Land ansässigen EU-Institutionen für die Beschäftigten eingefordert.
Umsonst. Das Ende der Exekutivagentur scheint beschlossene Sache – auch wenn sich die definitive Chafea-Schließung nach hinten verschiebt. Das neue, inoffiziell gehandelte Datum für den Abzug ist nun nach USL-Angaben Ende März. Bis dahin haben manche Beschäftigte nicht warten wollen. Hilfe, Unterstützung oder ein Sozialdialog ist für sie ohnehin nicht in Sicht. Das haben sie in der Zwischenzeit gelernt.
EU hält sich nicht an ihre eigenen Direktiven
Ein Teil hat gehandelt und sich freiwillig und initiativ von der Chafea verabschiedet. 26 der ehemals 85 Mitarbeiter haben nach Gewerkschaftsangaben einen neuen Posten in Luxemburg gefunden. Rund 30 gehen nach Brüssel und noch einmal so viele Personen hängen in der Luft. Deren Bewerbungsversuche blieben bislang erfolglos, obwohl die Generaldirektion der „Santé“ in Luxemburg gerade die Impfstrategie des Landes organisiert und zeitlich befristete Stellen zu besetzen hat.
„Dort werden Chafea-Bewerber gar nicht erst berücksichtigt”, sagt USL-Präsident Nunez. Es entsteht der Eindruck, dass sie so überzeugt werden sollen, doch noch nach Brüssel umzuziehen. Auf das jahrelang erarbeitete Fachwissen verzichtet man ungern. Aber es gibt noch andere Vorgänge, die beim Arbeitgeber EU erstaunen. „Wenn Entlassungen aus wirtschaftlichen Gründen anstehen, gibt es normalerweise einen Sozialplan”, sagt Gewerkschaftler Nunez.
Er verweist darauf, dass es die EU selbst war, die diese Regeln eingeführt hat. Gerade bei länderübergreifenden Entscheidungen soll ein Dialog mit den Arbeitnehmervertretungen geführt werden und die Perspektive der Beschäftigten eine Rolle spielen. Das bekannteste Beispiel, wo dies durchgesetzt wurde, ist der Autobauer Renault: Mitte der 90er Jahre beschließt das Management einseitig Umstrukturierungen in den Werken in Belgien und Frankreich. Die Beschäftigten sind völlig überrumpelt, genauso die Politik. Aus den geplanten Massenentlassungen im belgischen Vilvorde und im benachbarten Frankreich resultiert 1994 ein massiver Arbeitskampf.
Das beste Beispiel: Renault
Gerichte werden angerufen und entscheiden gegen Renault. Der Autobauer muss schließlich seine einseitige Entscheidung korrigieren und sein europäisches Management muss eine Zusatzvereinbarung mit den Gewerkschaften in Belgien und Frankreich unterzeichnen. Sie setzt der Willkür ein Ende.
Basis der Vereinbarung ist die EU-Direktive vom 22. September 1994, in der es heißt: „Im Falle einer geplanten außergewöhnlichen Entscheidung, die länderübergreifende Auswirkungen hat und so beschaffen ist, dass sie die Interessen der Arbeitnehmer erheblich beeinträchtigt, wird der europäische Konzernausschuss zu einer außerordentlichen Sitzung zusammentreten.“ Und weiter: (…) „Es wird ein Dialog und ein Meinungsaustausch zu einem angemessenen Zeitpunkt stattfinden, sodass die Elemente der Diskussion noch in den Entscheidungsprozess einfließen können.“ Nichts davon ist bei der Chafea bis jetzt der Fall, obwohl deren Ende länderübergreifende Auswirkungen für die Beschäftigten hat. „Da muss europäisches Gesetz eingehalten werden und die EU klammert sich selbst aus“, sagt Gewerkschaftler Nunez.
Dabei erfüllt die Entscheidung, die Chafea zu schließen, alle Kriterien für die Direktive. Der Entschluss, eine Agentur, die Gesundheitsprogramme in den Mitgliedstaaten fördert und verwaltet, in Pandemiezeiten zu schließen, ist außergewöhnlich. Die Begründung dafür klingt vorgeschoben. Wirtschaftliche Gründe sind die Argumente für die Entscheidung. Die Mitarbeiter seien zu teuer, heißt es aus Brüssel. Das klingt umso merkwürdiger angesichts der Tatsache, dass es für EU-Mitarbeiter in Luxemburg keinen Zuschlag für die Lebenshaltungskosten wegen der hohen Mieten gibt. Dafür kämpft die USL seit langem.
Wie wichtig ein solcher Zuschlag wäre, wird vor dem Hintergrund der geplanten Ansiedelung der europäischen Staatsanwaltschaft im Land klar. Dort stehen nach wie vor Posten offen. Darauf haben zuletzt die Abgeordneten Viviane Reding (CSV) und Diane Adhem (CSV) in einer parlamentarischen Anfrage am 27. Januar dieses Jahres an das Justizministerium hingewiesen.
Probleme, qualifiziertes Personal zu finden
Beide sagen und berufen sich dabei auf einen Medienbericht, dass es aufgrund der nicht besetzten Stellen unsicher ist, dass die Europäische Staatsanwaltschaft am 1. März – wie vorgesehen – in Luxemburg mit der Arbeit beginnen kann. Es stehen nicht nur Posten offen. Neben anderen EU-Mitgliedern hat Luxemburg selbst seine zwei delegierten Staatsanwälte noch nicht mal benannt.
Die EU-Institution soll sich um Strafen bei Korruption kümmern. Reding und Adhem beziffern den Schaden, der der EU jährlich durch Korruption entsteht, auf 400 Millionen Euro und den durch Steuerbetrug auf 40-60 Milliarden Euro. Aber zurück zum Schwerpunkt Gesundheit, der gemäß europäischen Verträgen in Luxemburg angesiedelt ist, genauer zur Generaldirektion Gesundheit, die ebenfalls in Luxemburg sitzt.
„Die EU kann nicht so einfach einen vertraglich zugesicherten Schwerpunkt wie Gesundheit aus dem Großherzogtum abziehen“, ist der Standpunkt der Gewerkschaft. Nicht nur dort kursieren noch ganz andere Befürchtungen. „Unsere Angst ist, dass die Chafea das kleine Boot ist und die Generaldirektion die Titanic“, sagt USL-Präsident Nunez. Deren Schicksal kennt jeder.
EU-Gesundheitsprogramme
Der Etat für Gesundheit innerhalb der EU wurde im Jahr 2020 im Angesicht der Pandemie erheblich aufgestockt. Für die Jahre 2014-2020 gab es 450 Millionen Euro. Im neuen Jahresplan, der von 2021 bis 2027 läuft, gibt es mehr als fünf Milliarden Euro aus Brüssel. Das ist nach USL-Angaben fast eine Verzehnfachung.
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