Brienzer Rothorn / Wenn der Berg ruft
Wenn sich der Herbst von seiner goldenen Seite zeigt, sollte man dies nicht ungenutzt lassen. Ein paar zusätzliche Stunden in der Sonne tun gut vor den grauen, nassen Wintermonaten, Licht und Atmosphäre sind zudem fürs Fotografieren günstiger als im Sommer. Guido Romaschewsky zog es ins Innere der Schweiz, wo er die Suche nach schönen Bergpanoramen mit einem ganz besonderen Bahn-Abenteuer verband.
Die alpine Schweiz bietet ein gefühlt unerschöpfliches Reservoir an Bergbahnen. Diese werden meist taktgenau von Zug oder Schiff bedient, was nicht zuletzt den vielen zeitlich straff organisierten Reisegruppen aus Fernost entgegenkommt. Der Alleinreisende lässt es gern gemütlicher angehen, doch auch er schätzt die gute Infrastruktur und die präzisen, zuverlässigen Fahrpläne, wenn der Himmel plötzlich aufreißt und der „Bäärg rueft“.
An meinem mehrtägigen Standort Hergiswil bei Luzern bin ich förmlich umzingelt von Voralpen-Gipfeln, die den vielarmigen Vierwaldstättersee umgeben. „Big Five“ ist, humorvoll übersteigert, auf einem Plakat in meinem Stammhotel zu lesen – ein Angebot, das ich schon mehrmals genossen habe. Das Spezialarrangement mit Bergbahn-Fahrten zu fünf bedeutenden Gipfeln der Zentralschweiz (Rigi mit der ältesten Bergbahn Europas, Pilatus mit der steilsten Zahnradbahn der Welt, das Stanserhorn mit seiner Cabrio-Seilbahn, Bürgenstock und Titlis, mit 3.238 m das „Dach“ der Innerschweiz und wirklich „big“) beinhaltet einen Tell-Pass, mit dem man während einer bestimmten Zahl von Tagen Zug, Schiff und Bergbahnen der Region frei nutzen kann. Was sich absolut rechnet, bedenkt man, wie viel Fränkli die jeweiligen Einzeltickets zusammen kosten würden.
Warm-up in der Zentralschweiz
Eine erste Foto- und Wander-Tour führt mich hinauf zum Rigi-Känzeli, mit stilvoller Anreise auf der „Uri“, einem der fünf prachtvollen Raddampfer des Vierwaldstättersees.
Als am selben Abend die Meteo des Schweizer Fernsehens verkündet, dass das Wetter nicht nur halten, sondern noch besser werden soll, ist für mich klar: Die geplante Wellness im Hotel ist (vorerst) gestrichen und ich lege sofort die Sachen für den nächsten Ausflug bereit. Die Frage, welcher Gipfel der Region noch in meiner „Sammlung“ fehlt, ist ebenso schnell beantwortet (ich hatte es schon länger im Hinterkopf …): das Brienzer Rothorn (2.351 m). Die Anziehungskraft der nahen Hochalpen und der glückliche Umstand, dass es die letzte Woche ist, in der die Dampf-Zahnradbahn noch dort hinauffährt (Saisonschluss 25. Oktober), machen meinen Entschluss unumstößlich.
Im Gegensatz zu Foto-Touren im Sommer, wo nur der frühe Vogel den Wurm fängt (wegen Dunst und Quellbewölkung ab Mittag), geht es diesmal auch mit Spätfrühstück um halb zehn. Beschließe, trotz möglicher Zentralbahn-Verbindung das Auto zu nehmen für die 56 km nach Brienz – shame on me, aber ich möchte nicht umsteigen, sondern lieber noch Zeit haben für ein gemütliches „Zmittag“ in Brienz, bevor das Dampfzügli der Brienz-Rothorn-Bahn abfährt.
Tagesziel Brienzer Rothorn
Gesagt, getan. Nach einer guten Berner Mahlzeit mache ich mich mit Sack und Fotopack auf in Richtung BRB-Talstation. Unterwegs spricht mich ein Holländer an: „Fahren Sie aufs Rothorn? Ich habe ein Ticket zum halben Preis, das ich nicht nutzen kann …“ Ich danke ihm fürs nette Angebot und erkläre, dass ich mit dem Tell-Pass wohl sowieso eine Ermäßigung bekomme. Was sich gleich darauf am Schalter mehr als bestätigt, denn ich muss im Endeffekt gar kein Billett bezahlen, nur die Karte vorzeigen. Hier, in der Brünig-Region, gilt sie kantonsübergreifend.
Ich trete auf den Perron, an dem der 13.58-Uhr-Zug auf die Fahrgäste wartet und die Dampflok Nr. 15 am Vorheizen ist. Die zwei bergseitig vorgespannten roten Waggons Typ Holzklasse mit seitlichem Compartiment-Einstieg werden aus Gewichtsverteilungsgründen von unten nach oben befüllt. Ein Bahnmitarbeiter weist mir ein noch leeres Abteil zu, kurz darauf bekomme ich Besuch aus dem Morgenland: Zwei junge Frauen sowie eine ältere, alle in elegante Schleier gehüllt, und ein junger Mann werden mir auf der einstündigen Fahrt hinauf zum „Hore“ (Horn) Gesellschaft leisten.
Eine ganze Stunde? Das erscheint auf den ersten Blick lang, erweist sich dann aber als ziemlich kurzweilig. Denn hat sich der Zug ratternd im Rhythmus der zischenden Dampflok erst einmal in Bewegung gesetzt und die 7,6 Kilometer lange Strecke in Angriff genommen, gibt es fortlaufend rechts wie links Interessantes zu sehen, zu hören und zu riechen – die halbrunden Panorama-Schiebefenster sind, Durchzug hin oder her, die meiste Zeit halb oder ganz geöffnet, Smartphones und Fotoapparate der Passagiere stets gezückt für den nächsten Schnappschuss.
Dampf-Bähnli mit Zahnrad und viel Charme
Durch Wälder, Tunnels, Galerien und an schroffen Felsen entlang klettert die Schmalspurbahn mit Zahnrad Meter um Meter nach oben, um bald die 1.341 m hoch gelegene Mittelstation Planalp zu erreichen. Hier können sich entgegenkommende Züge ausweichen, die Dampfloks kurz verschnaufen und neues Wasser tanken. Die Weichen mit ihrem verwirrenden Spiel aus Schienen- und Zahnstangenstücken des Systems Abt werden von Hand umgelegt, man nimmt sich die Zeit – die Berner Oberländer sind gemütliche Menschen – und all dies macht den besonderen Charme der Brienz-Rothorn-Bahn aus.
Wir verlassen die saftigen Almen mit ihren Bauernhöfen und Chalets, stampfen in steilen Windungen weiter hinauf in eine immer kargere Berglandschaft, Bäume werden rar, erste Schneereste überzuckern die Hänge und jede Kurve, die unser Bähnli beschreibt, eröffnet den Reisenden neue spektakuläre Blicke – vom türkis-grünlichen Brienzersee tief unten bis hinauf zu den immer deutlicher hervortretenden Gipfeln des Aarmassivs.
Um kurz vor drei ist mein Tagesziel, die Bergstation Rothorn-Kulm (2.244 m ü.M.), erreicht. Aussteigen, tief durchatmen und erst mal Licht und Kulisse aufsaugen. Wow! Mit knapp 10 Grad ist es hier oben milder als gedacht, ein wenig Schnee liegt im Schatten und an den Nordhängen. Die Bergreisenden verteilen sich schnell – ein angenehmer Aspekt der Nachsaison, es ist Platz zum Genießen, es kommt kein Herdentrieb-Gedränge auf wie an anderen, überlaufenen „Must-sees“ der Alpen.
Da mir an diesem besonderen Ort nur anderthalb Stunden bleiben, sofern ich nicht erst mit dem 17.40-Uhr-Lumpensammler wieder runter will, tausche ich zügig Kompakt-Knipse gegen die empfindlichere Systemkamera und mache mich, vorbei an der Sonnenterrasse des Bergrestaurants, auf den Weg zur anvisierten Aussichtsplattform, knapp unterhalb des Rothorn-Gipfels. Schließlich möchte ich die ganze Monumentalität der schnee- und eisbedeckten Viertausender mit der nötigen Brennweite im Bild bannen.
Über 600 Berggipfel als Kulisse
Das Panorama ist überwältigend: Mein Blick fällt auf die berühmte Nordwand des Eiger (3.967 m), den Mönch (4.107 m), die Jungfrau (4.158 m), weiter rechts glänzt die Blümlisalp (3.661 m) in der Sonne. Mit viel Zoom nach Südwesten erkennt man die Diablerets in den Waadtländer Alpen. Südlich, jenseits des Aare-Tals, dominieren die Wetterhorn-Gruppe (ca. 3.700 m), das wuchtige Schreckhorn (4.078 m) und das spitze Finsteraarhorn, mit 4.274 m höchster Gipfel der Berner Alpen.
Das Rothorn ist Teil des schmalen Brienzergrats auf der Grenze der Kantone Luzern und Bern, an der Schwelle von den Voralpen zu den Hochalpen. Die freie Sicht nach Norden ist daher nicht minder spektakulär und reicht von Säntis und Glärnisch im Nordosten über die eingangs erwähnten „Big Five“ der Zentralschweiz mit Vierwaldstätter- und Sarnersee bis zur markanten Linie des Jura im Nordwesten. Bei optimaler Sicht bildet der Schwarzwald den Horizont. Tief im Tal vor mir liegt der Wintersportort Sörenberg, von wo aus sich eine Seilbahn zum Rothorn hinaufhangelt.
Nach so viel Panorama-Genuss fällt es schwer, schon wieder Abschied zu nehmen und nicht noch eine Fotoserie im Sonnenuntergang schießen zu können. Aber vielleicht übernachte ich hier auch irgendwann einmal. Das Rothorn-Berghaus bietet nämlich zur Saison auch gemütlich eingerichtete Wandererzimmer.
Talfahrt: Die Foto-Pocket bleibt griffbereit, das Licht ist jetzt noch besser, wärmer. Die Bremsen müssen glühen, denke ich. Ein Zugbegleiter erklärt mir, dass bergab die Dampfmaschine wie eine Art Luftpumpe als Gegendruckbremse betrieben wird, Dampf- und Handbremse wirken unterstützend, damit auch jetzt sichere 9 km/h Rollgeschwindigkeit eingehalten werden.
Fast noch im Rausch von all diesen Eindrücken, steige ich in mein am See geparktes Auto und trete die gut 50-minütige „Heimfahrt“ über den Brünigpass nach Hergiswil an.
Drei Tage später – es ist mein letzter Aufenthaltstag – bin ich zwischen Weggis und Luzern noch einmal „unter Dampf“, diesmal zu Wasser auf dem Radschiff „Unterwalden“. Auf dem Achterdeck höre ich plötzlich ein „Hello!“, drehe mich um … und erkenne den jungen Mann mit den drei Damen aus dem Morgenland wieder – aus Katar, wie sich nun im kurzen Gespräch herausstellt. Die Welt ist erstens kleiner, zweitens als man denkt.
Die Brienz-Rothorn-Bahn im Kurzporträt
Die Brienz-Rothorn-Bahn ist die einzige Schweizer Zahnradbahn mit täglichem Dampfbetrieb. Sie verkehrt von Anfang Juni bis Ende Oktober. 1889 erdacht vom deutschen Ingenieur A. Linder, wurde das mutige Projekt vom Schweizer Baumeister T. Bertschinger in Angriff genommen. Schon im Jahr 1892 fuhr die erste Bahn, nachdem die Strecke in nur 16 Monaten Bauzeit von über 600 Mann, hauptsächlich Italienern, fertiggestellt worden war. Aufgrund schnell wachsender Konkurrenz (u.a. Jungfrau- Bahn) und späterer Kriegswirren konnte sie nach längeren Unterbrechungen erst ab 1931 wieder betrieben werden.
Die wichtigsten Eckdaten:
– Streckenlänge: 7,6 Kilometer
– Talstation: 566 Meter ü. NN
– Bergstation: 2.244 Meter ü. NN
– Höhendifferenz: 1.678 Meter
– Maximale Steigung: 250 Promille = 25 Prozent
– Spurbreite: Schmalspur, 800 Millimeter
– Zahnstangen-System: Abt
– Reisegeschwindigkeit: 9 Kilometer/Stunde
– Anzahl Dampfloks aus Gründungszeit (1891): 5,
davon Nr. 1, 2 u. 5 betriebsbereit (mit Kohlefeuerung)
– Anzahl Dampfloks mittlere Generation (1933/1935): 2
– Anzahl Dampfloks jüngste Generation (1992/1996): 4
(Letztere sind ölgefeuert)
– Maschinenleistung: 300 PS
– Lokpersonal: 2 (Lokführer+Heizer auf alten Loks), 1 Lokführer auf neueren Loks
– Erbauer Dampfloks: SLM Winterthur
– Anzahl Dieselloks (technische Einsätze): 3
Mehr Infos: https://brienz-rothorn-bahn.ch / www.bahnfreunde-brienz.ch
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Was heißt hier ‚wenn‘?
Wir wollen wissen WAS der Berg ruft!
So genau kann sich ein Berg leider nicht artikulieren. Tatsache ist aber, DASS er gelegentlich ruft – das wusste schon Luis Trenker.