Nordirland und die Wahlen im Vereinigten Königreich / Wie die Paramilitärs Nordirlands vom Brexit profitieren
Am kommenden Donnerstag wählen auch die Nordiren ihre Abgeordneten in das britische Parlament. In Belfast und im Rest der britischen Provinz heißt es aber nicht Johnson oder Corbyn, sondern wie immer: Unionisten gegen Republikaner. Historiker Dieter Reinisch (*) erklärt, wieso der Brexit beiden Lagern nutzt – und wer für neue Gewalt sorgen könnte.
Tageblatt: Mit dem Brexit-Chaos stieg die Sorge vor einem Wiederaufflammen der Gewalt in Nordirland. Aber 1998 mit dem Karfreitagsabkommen wurde doch eigentlich Frieden geschlossen – gibt es überhaupt noch gewaltbereite IRA-Gruppen?
Dieter Reinisch: Die große Gruppe aus den 1970er, 80er, 90er Jahren, die Provisional IRA, die in Europa unter dem Namen IRA bekannt ist und als der militärische Arm der Partei Sinn Féin gesehen wird, hat zwar noch aktive Strukturen, befindet sich aber nicht mehr im aktiven Kampf und hat auch kein Interesse daran. Gleichzeitig haben sich im Lauf der Zeit Gruppen von ihr abgespalten. Die größte und aktivste von diesen ist die New IRA, die Neue IRA. Die hat durchaus das Potenzial und den Willen, Anschläge durchzuführen. Wobei es nicht um größere Kampagnen wie in der Vergangenheit geht, sondern um sporadische Anschläge, wie es sie in Nordirland die letzten 21 Jahre seit dem Friedensabkommen immer wieder gegeben hat.
Wie viele gewaltbereite Mitglieder zählt die republikanische Seite überhaupt, lässt sich das einschätzen?
Für den bewaffneten Kampf stehen wohl bis zu knapp über hundert Mitglieder bereit. Das Unterstützerumfeld, das für die Logistik sorgt, Häuser bereitstellt für Treffen, Geld sammelt, ist wesentlich größer. Da sind wir dann schon bei mehreren Hundert. Dieses Umfeld überschneidet sich mit den Mitgliedern der republikanischen Partei Saoradh und die wiederum hat ein Unterstützerspektrum im mittleren vierstelligen Bereich. Doch die New IRA ist kein rein nordirisches Phänomen, sondern hat auch viele Unterstützer im Süden, in der Republik Irland.
Eine der vielen Folgen des Brexit ist, dass eine Wiedervereinigung Irlands wieder im Raum steht. Käme es dazu, würde sich das Ziel der Republikaner dank britischer Politik erfüllen – profitieren die republikanischen Dissidenten demnach vom Brexit?
Auf jeden Fall. Aber alle Gruppen – auf republikanischer wie auf loyalistischer Seite – profitieren vom Brexit, da er das politische System schwächt. Den Dissidenten der Republikaner kommt der Brexit entgegen, weil er die Problematik aufgezeigt, dass Nordirland ein Teil des Vereinigten Königreiches ist. Durch den Friedensprozess während der vergangenen 20 Jahre verschwand die Teilung Irlands aus den Köpfen der Bevölkerung. Man sieht keine Grenze mehr, das Einzige, was man bemerkt, ist die andere Währung, mit der man plötzlich bezahlen muss. Vor allem die Bevölkerung im Süden hatte die Teilung aus dem Blick verloren. Mit dem Brexit hat sich das in den letzten zwei, drei Jahren völlig umgekehrt – und das spielt radikalen Republikanern in die Hände.
Während der Debatten rund um den Brexit ging es auch um mögliche neue Grenzposten. Diese waren einst beliebte Anschlagsziele. Nun wurde davor gewarnt, das könnte sich wiederholen. Halten Sie das für möglich?
Nicht in dem Umfang wie in früheren Jahren. Die Gruppen haben nicht die Ressourcen und nicht die Größe, die die IRA in den 70ern oder 80ern hatte. Die ganze Problematik der Anschläge entlang der Grenze hat den Brexit-Gegnern in die Hände gespielt und wurde viel von Seiten der Europäischen Union und der irischen Regierung in Dublin verwendet. Natürlich besteht die Möglichkeit von Anschlägen im Fall einer harten Grenze, weil für radikale Republikaner alle Vertreter des britischen Staates, ob das jetzt die Armee ist oder die Polizei oder Grenzposten, ein mögliches Angriffsziel sind. Eine große Kampagne hätte es aber nicht gegeben. Und schließlich gab es auch nach dem Friedensabkommen regelmäßig Anschläge. In den letzten zwei Jahrzehnten sind bei Anschlägen knapp 180 Personen gestorben. Es gibt ein niedriges, jedoch permanentes Gewaltlevel in Nordirland.
Geht die größere Gefahr zurzeit nicht sowieso von loyalistischen Paramilitärs aus? Die sehen den vom britischen Premier Boris Johnson neu verhandelten Deal als Verrat.
Klar, die sind enorm unzufrieden mit dem von Johnson vorgeschlagenen Deal – und die sind auch zahlenmäßig überlegen. Loyalisten fühlen sich verraten, weil Nordirland anders behandelt wird als der Rest des Vereinigten Königreiches. Sie sprechen von „wirtschaftlicher Wiedervereinigung“. Loyalisten glauben seit Langem, von der eigenen politischen Führung verraten worden zu sein durch den Friedensvertrag. Die versprochene Friedensdividende ist ausgeblieben. Durch die weltweite Finanzkrise und die Desindustrialisierung sind viele Jobs verloren gegangen, die Schuld wird dem Friedensprozess und den Katholiken zugeschoben. Für Loyalisten ist die Aufrechterhaltung der Union mit Großbritannien zentral. Als die Ulster Volunteer Force, die UVF, eine der paramilitärischen Organisationen, im Jahr 2007 den bewaffneten Kampf aufgab, hat sie das damit begründet, dass die Union mit Großbritannien sicher ist. Durch die jetzt vorgesehene Sonderreglung, die Handelsgrenze in der Irischen See, sehen Loyalisten die Union aber wieder in Gefahr.
Hat der Brexit die Spaltung in Nordirland weiter vertieft?
Die Polarisierung hat sich im Wahlkampf nochmals verstärkt. Auf unionistischer Seite vor allem dahingehend, dass Loyalisten viel stärker als in vergangenen Zeiten die Democratic Unionist Party, die DUP, unterstützt haben. Das reicht vom Aufhängen diffamierender Plakate bis zur Einschüchterung von Kandidaten. Die zweite unionistische Partei, die Ulster Unionist Party (UUP), wollte in North Belfast einen eigenen Kandidaten aufstellen, was ziemlich sicher zum Sieg des Sinn-Féin-Kandidaten über den der DUP geführt hätte, weil das unionistische Lager zersplittert gewesen wäre. Nach Drohungen von loyalistischen Paramilitärs hat die UUP ihren Kandidaten dann zurückgezogen.
Diese Drohungen werden also ernst genommen?
Auf jeden Fall. Den Einfluss der loyalistischen Paramilitärs darf man nicht unterschätzen. Auch auf die Parteien. Tage nachdem Johnson im Oktober seinen Deal veröffentlicht hat, kam es zu einer Protestversammlung gegen den Deal in Ostbelfast. An der haben Vertreter aller loyalistischer Paramilitärs teilgenommen genau wie gewählte Vertreter von DUP und UUP. In den letzten Wochen gab es in mehreren Teilen Nordirlands weitere dieser Treffen. Die loyalistischen Paramilitärs haben immer noch einen extrem starken Einfluss auf unionistische Parteien, vor allem auf die DUP und hier auch auf die Parteiführung.
Als Außenstehender drängt sich die Frage auf, wieso die nordirische Bevölkerung dieser dauernden Polarisierung und Instrumentalisierung nicht überdrüssig wird. Wieso ändert sich nichts daran, wieso haben Sinn Féin und DUP weiterhin einen solch großen Rückhalt?
Das Karfreitagsabkommen führte zu einer enormen Verringerung der Gewalt – der Krieg, wie er war, ist zu Ende. Doch die Spaltung in der Bevölkerung wurde verstärkt. Die meisten der sogenannten „Peace Walls“ (Mauern respektive Stahlzäune, die katholische von protestantischen Vierteln trennen, alleine in Belfast gibt es mehr als hundert davon, Anm. d. Red.) entstanden erst nach 1994, dem Jahr der Waffenstillstände der paramilitärischen Organisationen. Seit dem Abkommen muss sich jede Partei, will sie Erfolg haben, deklarieren, ob sie nationalistisch oder unionistisch ist. Und die Stadtteile sind gespalten. Nur drei bis vier Prozent der Schulkinder gehen in gemischte Schulen.
Aber versucht die Politik da nicht, eine größere Mischung herzustellen?
Das Karfreitagsabkommen verlangt, dass die beiden größten Parteien beider Seiten die Regierung stellen. Das Problem ist demnach, dass man, um gewählt zu werden, die stärkste Partei in seiner Bevölkerungsgruppe sein muss. Wenn man das aufweicht, wie die Alliance Party, und überkonfessionell agieren will, gewinnt man keine Wahl. Das wird sich auch bei den Westminster-Wahlen am 12. Dezember zeigen. Es geht wieder nur noch um: wir gegen sie.
Seit dem Brexit-Referendum wird auch wieder über eine mögliche Wiedervereinigung gesprochen. Das war davor kaum der Fall.
Vor dem Brexit gab es bezüglich einer Wiedervereinigung in der Tat keine Diskussion. Mit dem Brexit hat sich das fundamental geändert. Ich hätte mir selber vor fünf Jahren nicht vorstellen können, dass öffentlich über Wiedervereinigung gesprochen wird – jetzt ist sie in aller Munde.
Für wie realistisch halten Sie ein solches Szenario?
Das Karfreitagsabkommen sieht vor, dass es ein Referendum zur Wiedervereinigung geben kann, wenn eine Mehrheit in Nordirland dafür ist. Der demografische Faktor spricht dafür, zurzeit liegen die Anteile beider Bevölkerungsgruppen bei etwa 50 zu 50, doch der katholische Anteil wächst rascher. Wenn man davon ausgeht, dass alle Katholiken für eine Wiedervereinigung stimmen werden, wäre diese Bedingung wohl bald erfüllt. Viele liberale Mittelschicht-Unionisten wären wohl auch dafür, um so zurück in die EU zu kommen und weil die Menschenrechtslage, was Minderheitenrechte angeht, viel liberaler in der EU ist. Nordirland hat in dem Bereich, etwa was gleichgeschlechtliche Ehe oder Abtreibung angeht, eine extrem konservative Gesetzgebung. Theoretisch würde die Möglichkeit demnach bestehen, dass es, sollte es zu einer Abstimmung kommen, eine Mehrheit gibt.
Und praktisch?
Viele Fragen und Probleme sind nicht gelöst. Vor allem wie eine Wiedervereinigung vonstattengehen könnte, bleibt ein Problem. Gibt es zwei Abstimmungen, eine in Nordirland und eine in der Republik? Gibt es nur eine? Oder gibt es gar drei, also auch eine im Vereinigten Königreich? Klar ist nur, dass es die Möglichkeit zu einer Abstimmung gibt, weil das so im Karfreitagsabkommen festgehalten ist. Doch in dem Abkommen steht, dass eine derartige Abstimmung vom britischen Parlament durchgeführt werden muss. Dadurch sehe ich die Chance als eher gering an, da das britische Parlament natürlich kein Interesse daran hat, dass Nordirland Großbritannien verlässt.
* Der Historiker Dieter Reinisch, geboren 1986, forscht am Institute for Advanced Study an der Central European University in Budapest zur republikanischen Bewegung in Irland.
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