Integration / Austausch und Mutmachen zwischen Geflüchteten: Wie sich Karate-Trainer Zein Suhail ein neues Leben in Luxemburg aufgebaut hat
Ein syrischer Flüchtling ist Zein Suhail heute nicht mehr. Doch genau wie das bei Iryna Skrypak der Fall ist, gibt es auch für den Karate-Trainer weiterhin Tage, an denen er keine Antworten auf seine Fragen finden kann. Das Tageblatt hat die ukrainische Journalistin, die vor drei Wochen aus ihrer Heimat flüchten musste, zu einem Austausch begleitet. Ein Gespräch, der zwar etwas zögerlich begann – später aber mit einer Einladung zum Essen endete.
„Welcome.“ Ein Wort und gleichzeitig ein Satz mit großer Bedeutung und traurigem Hintergrund. Zein Suhail richtet ihn am Dienstagabend an die Ukrainerin Iryna Skrypak, fester Händedruck inklusive. Der Coach lächelt nur ganz kurz. Aus seiner Mimik ist Ernsthaftigkeit zu entnehmen. Immerhin sind es Bomben, Todesängste und Kriege, die dieses Duo zusammengeführt haben. Noch nie hatte die Kulturjournalistin von ihm oder der Garnicher Sporthalle gehört. Doch es ist dieser Ort, an dem sie sich im März 2022 gegenüber einem Fremden öffnet und über ihre Flucht berichtet.
Suhail bemüht sich gleich bei ihrer Ankunft, für eine entspannte Atmosphäre zu sorgen – eine Art Wellenlänge aufzubauen. Während seine Karate-Schüler noch ein paar Badminton-Schläger auftreiben, erklärt er in wenigen Worten, wieso er den Differdinger Klub verlassen hat. Doch das Sportliche rückt sehr schnell in den Hintergrund. Der 50-Jährige sieht nicht nur die Sorge in den Augen der Ukrainerin, sondern ist ebenfalls bemüht, einfühlsam auf sie zu wirken. „Es tut mir leid, was dir passiert ist.“ Skrypak antwortet nicht, nickt. Es ist eine Geste der Dankbarkeit. Vor ihr sitzt ein Mensch, der 2014 zwar aus anderen Gründen, dennoch mit den gleichen Sorgen und Fragen in einer komplett neuen Umgebung angekommen ist.
Es dauert ein paar Sekunden, bis sich die Ukrainerin dazu durchringt, ihre erste Frage an Suhail zu richten. Er macht es ihr leicht, erzählt gleich ganz offen von seiner damaligen Heimat Daraa und der schrecklichen Angst, seine Söhne könnten aufgegriffen und getötet werden. Selbst als er seine brutale Festnahme erwähnt, wird der Coach nicht emotional. „Ich habe an diesem Tag den Tod jede Sekunde vor meinen Augen gesehen. Was ich getan hatte? Ich habe nur gesagt, dass wir Frieden brauchen. Bei uns waren es nicht die Bomben, wie in der Ukraine, sondern die Waffen der Polizei.“ Ab diesem Moment gab es für ihn und seine Familie keine ruhige Minute mehr. Vier Monate später floh er zunächst alleine nach Jordanien. Erst als er nach zwei Wochen wieder Haus, Arbeit und Boden gefunden hatte, holte er seine Frau und die sechs Kinder zu sich.
In den ersten Bus gestiegen
In Syrien gäbe es heute nichts mehr, sagt Suhail. „Früher kostete ein Kilo Tomaten ein Euro, jetzt sind es 100. Es geht nur noch um’s Business. Ich will es eigentlich nicht sagen, aber ich fürchte, dass dies auch in der Ukraine so sein wird“, sagt er und blickt Skrypak direkt in die Augen. “Ich habe Hoffnung aufgrund der patriotischen Einstellung des Präsidenten”, erwidert sie. Doch der bleibt der Karate-Coach hart: „Es gibt keinen Weg, dies jetzt noch zu stoppen. Es geht nur noch um das Geld. Die normalen Menschen wie wir sind alle weggegangen.“
Auch in Jordanien sah Suhail keine Zukunft für seine Kinder. Es war ein UN-Resettlement-Programm, über das er letztlich in Weilerbach landete. „Es war also nicht meine eigene Entscheidung. Die UN kam in unser Haus, hat unsere Pässe genommen. So wurden wir Flüchtlinge. Zwei Jahre waren wir in Kontakt, bevor wir nach Luxemburg gekommen sind.“ Skrypak erzählt ihre Geschichte. „Nach der Grenzüberquerung in Polen sah ich einen Bus mit einem Tieraufkleber. Es war die einzige Möglichkeit, mitsamt meiner Katze zu flüchten. Ich wusste überhaupt nichts über Luxemburg und wollte nur an einen sicheren Ort“, erzählt sie. Auch dem früheren Asienmeister wurde von dem UN-Mitarbeiter 2014 telefonisch mitgeteilt, er solle erst einmal Luxemburg googeln. „Dieser Mann sagte mir damals, man könne dieses Land mit Katar vergleichen.“
Doch die ersten Wochen in der Flüchtlingsunterkunft fühlten sich für Suhail nach alles anderem als einem Gewinn an. Es sei eben in seiner Kultur verankert, als Familienchef für alle zu sorgen. Doch die Umstände machten dies unmöglich. „Es gab nur Gemeinschaftsduschen. Man konnte nicht einfach alles spontan machen, wenn man wollte. Es war plötzlich alles anders. Ich habe geweint.“ Er hält kurz inne. „Wir hatten vorher alles, was wir wollten. Ein großes Haus, ein riesiges Anwesen, Pferde … – aber das haben wir von einem Moment auf den anderen alles verloren.“
Skrypak weiß nicht, was von ihrer Wohnung in Kiew übriggeblieben wird. Auch die Sorge um die Familienangehörigen beschäftigt sie jede Sekunde. Bruder und Eltern wollten und durften die Ukraine nicht verlassen. Suhail hört zu. Auch er kennt diese Gefühle. Nachdem sein Vater starb, ließ er seine Mutter bei einem der 21 Brüder und Schwestern zurück. „Meine Freunde und Erinnerungen sind alle in Syrien. Das Leben geht weiter, aber es ist hart.“
Ich habe mich hier nie wie ein Flüchtling gefühltnach seiner Flucht aus Syrien
Skrypak zögert nicht lange und fragt ihn direkt, wie lange es gedauert hat, bevor er sich in Luxemburg wohlfühlen konnte. „Glaub’ mir, es ist das beste Land in Europa, obschon die Wohnungspreise so hoch sind. Wenn du mit klarem Kopf agierst, kannst du hier alles erreichen“, antwortet der Coach und macht ein paar Handbewegungen, um einen seiner Schüler herbeizurufen. „Ich habe mich hier nie wie ein Flüchtling gefühlt. Das ist in Deutschland anders, wenn es vor den Flüchtlingswohnungen brennt.“ Der kleine Logan eilt herbei und unterhält sich auf Luxemburgisch mit dem Trainer. Die vielen Sprachen seien der große Vorteil. „Nach exakt fünf Jahren habe ich den Sprachentest bestanden und die Luxemburger Nationalität angenommen. Ich bin unendlich dankbar, hier gelandet zu sein.“ Gemeinsam mit seiner Frau nimmt er noch heute mehrmals die Woche an Online-Kursen teil, um das Vokabular auszubauen.
Alte Gewohnheiten, neues Leben
Auch Skrypak will Französisch lernen. Es sei die beste Möglichkeit, auf dem Arbeitsmarkt fündig zu werden. Wie lange sie bleiben wird, weiß sie nicht. Denn aus der Heimat erreichen sie bereits nervöse Töne. In Kiew beschreibt man ihre Flucht teils mit abwertenden Worten. „Man wirft uns vor, dem Land nicht treu zu sein. Als hätten wir aufgegeben.“
Genau wie damals der Syrer hat auch sie die schwere Entscheidung getroffen, ihr altes Leben auf unbestimmte Zeit hinter sich zu lassen. Dass der gesprächige Coach in Luxemburg Fuß fassen konnte, verdankt er nicht nur seinem Sport. Aber Karate war ein Weg, zumindest einen Teil seiner Routinen und Gewohnheiten weiterzuleben. In Differdingen wurde man 2015 auf ihn aufmerksam, stellte ihn als Teilzeitcoach ein. Heute sei der Sport, von dem er früher leben konnte, nur noch ein Hobby. „Mit einer einzigen Bombe wurde die Halle, die ich aufgebaut hatte, komplett zerstört.“ Suhail weiß heute, wie es sich anfühlt, wieder bei Null anfangen zu müssen. „Ich lebe jetzt in der Gegenwart. Niemand weiß, was morgen ist. Ich lasse mein Geld nicht mehr auf einem Konto auf einer Bank.“ Dann sagt er zwei Sätze, die Skrypak während der Heimfahrt mehrere Male wiederholen wird: „Du wirst sehen, in einem Jahr wird das alles für dich schon sehr viel einfacher sein. Aber du musst irgendwo anfangen.“
Für ihn selbst war das der Karate. Inzwischen hat der Luxemburger, der in seiner ersten Heimat auch als Barber gearbeitet hat, neue Pläne. Ein eigenes Salon, irgendwo in Luxemburg. „Der erste Haarschnitt ist kostenlos“, fügt er mit einem breiten Lächeln hinzu. Bevor es soweit ist, will er mit der Ukrainerin in Kontakt bleiben – ihr die wunderbaren Kochkünste seiner Frau zeigen. Wie luxemburgisch er inzwischen ist, zeigt auch, dass er ganz genau weiß, wieviel man für ein Kilo Tomaten bei „Cactus“ hinblättern muss.
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